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Kinder an der Marginale der Gesellschaft

■ Kinder kann man nicht abstellen wie ein Werkzeug / Die Gesellschaft lamentiert und produziert Heimkinder und fordert lauthals gleiches Recht auf Familie

Bianka ist in der achten Klasse. In diesem Jahr wird sie in der Schule aufhören und vielleicht Krankenpflegerin lernen. Das könnte sich Bianka vorstellen. Eigentlich eine ganz normale Geschichte, Freunde sind da, auch außerhalb des Heimes, tanzen und erzählen ist sicher auch ihr Fall. Für die großen und kleinen Probleme eines 14jährigen Mädchens hat sie keine Eltern, die sie um Rat fragen kann.

Von denen will sie auch nichts mehr wissen. Sie fühlt sich im Heim wohl. Ein Zuhause im Sinne von Familie ist es jedoch nicht, sagt sie. In eine neue Familie will sie nicht.

Ihre Mutter hat als Küchengehilfin am Alexanderplatz gearbeitet, was ihr Vater gemacht hat, daran erinnert sich Bianka nicht mehr. Da sind noch fünf andere Geschwister. Gewohnt haben sie im Friedrichshain, in einer Vierraumwohnung. Alles ging soweit gut, bis sich die Eltern nicht mehr verstanden. Zögernd erzählt Bianka vom Streit der Erwachsenen. Sie ist dann auch nicht mehr zur Schule gegangen. Die Jugendhilfe hat Bianka dann aus den kaputten Verhältnissen rausgeholt und faktisch zur letzten Instanz, ins Heim geschickt. Seitdem hat sie auch keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern, die sich nicht melden, und das seit sechs Jahren.

Eine ganz normale Geschichte? Bei uns im Land sind es rund 24.000 Kinder, die so oder unter ähnlichen Umständen ins Heim geraten. Die jüngsten Schicksale sind Kinder, deren Eltern sich auf die Sonnenseite des Lebens begeben haben und gelinde gesagt den geringsten Weg des Widerstandes wählten, und ihre Kinder im Stich ließen, sie der Obhut des Staates überantworteten, der ja so bescheuert ist, und sich um die Zurückgelassenen kümmert...

Im Kinderheim in der Erich-Kurz-Straße 4a in Berlin -Lichtenberg leben 170 (die Zahl schwankt) Kinder, ganz kleine und junge Leute bis 18, die entweder aus einem gestörten sozialen Milieu stammen, oder die keine Eltern mehr haben.

Das Haus ist nicht gerade so angelegt, daß Kinderpsychologen oder Soziologen begeistert in die Hände klatschen würden. Wer hierfür die Verantwortung trägt, steht auf einem anderen Blatt. Aber selbst Kleinigkeiten, die das Leben erträglich machen, werden durch idiotische Bestimmungen und Gesetze, die noch auf 1956 datiert sind, behindert. So kann der endlos lange Flur nicht mit einem kreativem Design „aufgelockert“ werden, weil es eben nicht sein darf. Die Bewohner sind jedoch an Einfällen nicht verlegen, Unterstützung kommt auch vom Patenbetrieb oder es wird eben selbst zur Walze und zum Farbtopf gegriffen, kein Peroblem.

Was vielleicht schlimmer ist, sind antiquierte „Durchführungsbestimmungen“ zur Adoption der Weisen- oder der Heimkinder, die noch ihre Eltern haben, gibt der Heimdirektor Dr. Roeder zu bedenken. Da melden sich Adoptiveltern aus Australien, Mexiko, Texas und weiß der Kuckuck woher, aber nichts geht, wenn nicht die Mühle der Bürokrtie zu Ende gemahlen hat und

am Ende doch die Interessen der Kinder hinten runter fallen.

Priorität hat die Familie und immer die Familie, wenn es um die Erziehung der Kinder geht, hieß und heißt es, so stehts im Familiengesetzbuch, der „kleinsten Zelle“ etc. Was aber, wenn diese Institution nicht funktioniert? Wenn sie im Gegenteil den kleinen Menschen deformiert, anstatt ihm die Liebe und Güte entgegenzubringen, die er braucht. Wie kann sich ein Kind überhaupt gegen Ungerechtigkeiten, Gewalt oder sexuellen Mißbrauch, eben durch Erwachsene verübt, wehren, wenn Erwachsene die Gesetze machen und im Namen der Kinder Recht sprechen?

Wer erfährt von Konflikten hinter den trauten Neubauwänden? Ein Kind muß beispielsweise das Recht haben, zu entscheiden, ob es mit den Eltern, die es sich ja nicht a priori aussuchen kann, auch zusammenleben will oder kann. Überhaupt besteht hierzu in der juristischen Frage eine enorme Lücke, wofür neben der Bürokratie auch das System verantwortlich zu machen ist.

Eine andere Frage ist der Ort und die Umstände, unter denen dann die Kinder leben, die aus den familiären Verhältnissen herausgerissen sind oder keine mehr haben. Warum wird auf die Unterstellung der Heime unter das Bildungsministerium beharrt, vielleicht auch eine so hilflose Entscheidung, die stiefmütterlich ausfällt, da Heimkinder eher ein sozialer Fall als ein Fall für die Bildung oder gar Erziehung sind. Ein Ministerium für Soziales gibt es bisher nicht, das sich von Seiten des Staates um die Belange von Sozialfällen, und nicht nur die der Heimkinder, kümmern müßte. Schließlich gibt es noch den Weg der Selbsthilfe, unter Umgehung jeglicher staatlicher Institutionen und Ministerien, alternative Lebensformen zu organisieren, wie beispielsweise das „Projekt Kinderdorf“ oder den „Spielwagen“ und andere.

Bei allem Unmut über die - nunmehr eingestandene Unfähigkeit des bisherigen Bildungs- und Erziehungssystems, bringt es nicht viel, nun die Welt der Heime ganz und sonders in schwarz zu malen, wie das die „Junge Welt“ am 27. Februar, wenn auch ungewollt, gemacht hat. Man schlägt den Sack und meint den Esel, wenn von Anonymität der Kinder gesprochen wird, von Aggressivität oder Kontaktschwierigkeiten. Jeder Lehrer an einer Großstadtschule könnte beispielsweise ein Lied von Gewalt, Frechheit, Arroganz etc. singen, die unter den Kindern aus „geregelten Elternhäusern“ auftreten, ohne das als allgemeingültig hinstellen zu wollen. Heimkinder machen da m. E. keine Ausnahme, die „Erwachsenen“ übrigens auch nicht. Auch wenn die Zeitung darauf pocht und schreibt, die Gesellschaft solle endlich an

erkennen, daß Heimkinder das gleiche Recht auf familiäre Erziehung haben wie andere Kinder auch, ist das nur zum Teil richtig, da einseitig. Vielleicht so: die Gesellschaft soll endlich anerkenen, daß sie und ihre Verhältnisse Heimkinder produziert und die in die Ecke stellt.

Vielleicht wirkt ein Verdrängungskomplex der „Alten“, die, vom schlechten Gewissen geplagt, verstärkt die Aufmerksamkeit auf die Belange der sogenannten Randgruppen lenken, weil sie mit ihren eigenen Sorgen nicht zurecht kommen. Was aber diese fälschlich als marginale Randgruppe abgetanen Kinder dringend brauchen und was Engagierte auch wollen, sind keine moralischen Appelle, oder sentimentales Bedauern. Die Verhältnisse sind zu verändern, aus denen Heimkinder hervorgehen, die Lebensumstände dieser Kinder (der Betreuer) sollten der Gesellschaft (hier hat Frank Pawlowski recht) sicher nicht egal bleiben. Kinder an die Macht!

Andre Beck

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