piwik no script img

Jetzt auch Lettland?

■ Volksfront gewinnt lettische Wahlen / Litauen antwortet auf Gorbatschows Telegramm / Demokratische Plattform organisiert sich / Gerüchte über radikale Wirtschaftsreform

Berlin (taz) - Der UdSSR droht trotz Gorbatschows Präsidentschaft weiterer Zerfall. Am Wochenende gewann in Lettland die Volksfront die Wahlen, nach vorläufigen Ergebnissen stellt sie künftig etwa 120 der 201 Abgeordneten im obersten Sowjet in Riga. Auch in Estland ist mit einem hohen Zulauf für die Separatisten zu rechnen. Bei der Tagung des Volksdeputiertenkongresses letzte Woche hatten Vertreter der beiden Republiken Verhandlungen über einen Übergang zur Unabhängigkeit angekündigt. In der Russischen Föderation, in der Ukraine und Belorußland fanden außerdem Stichwahlen statt.

Am Montag wurde dann das Antwortschreiben der litauischen Regierung an Gorbatschow übergeben. Ein Sajudis-Vertreter sagte, in dem von Präsident Landsbergis unterzeichneten Schreiben berufe sich die Republik auf das Völkerrecht und die Schlußakte von Helsinki. Die vom neugewählten Parlament verabschiedeten Gesetze seien nach wie vor gültig.

Es ist nun damit zu rechnen, daß Gorbatschow bald mit der am Wochenende bestimmten litauischen Verhandlungsdelegation zusammentreffen wird. Möglicherweise werden dazu auch Vertreter der anderen baltischen Republiken eingeladen werden. Bei den Verhandlungen wird es vor allem um die wirtschaflichen Folgen eines Austritts aus der Union gehen. Gorbatschow hat Litauen bereits mit einer Rechnung präsentiert, auf der die in Litauen getätigten sowjetischen Investitionen zusammengerechnet werden. Litauen wiederum verweist auf die ökologischen Folgekosten der sowjetischen Industrialisierung.

Daß Gorbatschow sich die Nationalitätenprobleme allein unter den Nagel reißt, verärgert jetzt zunehmend den radikalen Flügel der KPdSU, die „Demokratische Plattform“ (DP). Am Sonntag beschloß der Koordinierungsrat der DP, sich vom Parteiapparat zu trennen. Es soll sofort mit der Registrierung der DP-Anhänger begonnen werden, damit im April und Mai Regionalkonferenzen stattfinden können. Auf einem Kongreß im Mai soll sich dann die KP als eigenständige Gruppe innerhalb oder außerhalb der Partei konstituieren. Schon letzte Woche hatte der Kongreßabgeordnete Affanassjew gegenüber Radio Monte Carlo sinen Austritt aus der Partei in Aussicht gestellt. In der Kongreßdebatte zur Präsidentenwahl hatte er Lenin des Terrors bezochtigt. Laut DP-Führer Igor Jeremjow versteht sich die DP aber als „fortschrittlicher Teil“ der KPdSU; sie strebt ihm zufolge einen demokratischen Sozialismus nach den Vorstellungen der Linkskräfte in Ungarn und der DDR an.

Während sich also die Union und die Partei zunehmend spalten, schwirren immer neue Gerüchte über die zukünftige Politik der Regierung. Der Interfax-Dienst von Radio Moskau meldete am Montagvormittag, daß eine radikale Wirtschaftsreform geplant sein soll. Dazu gehören eine Preisreform, die Konvertibilität des Rubels, eine Bankenreform und die Aufgabe des Staatsmonopols in der Wirtschaft. Außerdem soll ein Aktiengesetz verabschiedet und Ausgleich für den Wegfall der Subventionen geschaffen werden. All dies soll die Idee des stellvertretenden Premiers Leonid Abalkin sein.

Dominic Johnson

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen