Noch ist der Bär rot

Die Mauer ist weg - doch die Insel wird größer  ■ K O M M E N T A R E

Jahrelang schützte der meterhohe antifaschistische Wall die Hälfte Berlins vor der egalisierenden Flut teutonischer Touristenschwärme aus den Schluchten des Thüringer Waldes. Doch seit dem 9. November ist alles anders. Solang die D -Mark reicht, reiben sich die staunenden Stone-washed-Ärsche bei Woolworth und Karstadt die Reste von vierzigjähriger Konsumabstinenz aus den Nähten. Geschliffen wird aber nicht nur die Auslegeware in den Supermärkten, sondern zugleich das multikulturelle Ambiente der sie beherbergenden Stadt.

Die Szene zwischen Kreuzberg und Ku'damm tröstet sich noch mit billigem Bier in Ostberliner Kneipen über die wachsende Schar fingerzeigender Provinzler. Seit dem pseudodemokratischen Ur-Knall am 18. März weiß man nun auch endlich, welche Köpfe da täglich beuteltragend aus dem Osten rüberrollen. „Doitschland“ allen Ortens, doch Gott sei Dank nicht ganz. Der Bär hat sich entschlossen, nicht mit den Wölfen zu heulen, Berlin wählte rot. Die trotzige Frontstadtmentalität scheint über die bröckelnde Mauer gesprungen zu sein. Mehr als 70 Prozent der Hauptstädter wählten von SPD linkswärts und lagen damit schwer neben dem D-Mark-lastigen Republikstrend. In den Kneipen des Prenzlauer Bergs wurden noch in der Wahlnacht finstere Abriegelungspläne geschmiedet. Eine neue Mauer muß her und diesmal um ganz Berlin. Wer schützt uns vor Kohls schwarzbraunem Hofstaat, wenn man hier am trüben Wasser der Spree die neue und alte Reichshauptstadt küren will? Selbst Walter, der rotbeschalte Momper, will sich im Weltstadttaumel Olympia-Ringe um die Glatze legen lassen.

Doch anstatt schwitzenden Sportlerbeinen beim Run ums Gold geeint zuzujubeln, sollte Berlin sich auf sich selbst besinnen und bleiben, was es im Westen seit Jahren, und in den Hinterhöfen des Ostens schon immer war. Die Zufluchtstätte all jener, die in deutschen Landen keine Heimat fanden, all jener, die der Tristesse, der Spießigkeit, dem Wehrdienst und der heiratswütigen Freundin entflohen. Die Stadt taugt nicht zur Kaiserpfalz. Noch hat der rote Bär keinen Ring in der Nase, aber genug Beton im Schuppen, um sich seine Freiheit zu ermauern.

Meier