: Litauer skeptisch
■ Unabhängigkeitsgegner regen sich Gorbatschow trifft baltische Delegationen
Berlin (taz) - Die Krise in der UdSSR um den möglichen Austritt der Baltenrepubliken aus der Union verlagert sich jetzt zunehmend in diese Republiken hinein. Nachdem schon vor einigen Tagen ein von 180.000 Personen unterzeichneter Aufruf gegen die Unabhängigkeit Litauens und für ein Referendum veröffentlicht worden war, tagte am Dienstag das ZK der unionstreuen KPdSU-Plattform innerhalb der litauischen KP. Es wurde von einem Abgrund der Spaltung zwischen Sajudis und der litauischen Bevölkerung gesprochen. Der Versuch, Litauen die volle staatliche Souveränität zu geben, heize die Spannungen im Land weiter an. Besser als der Austritt aus der Union wäre, so das ZK, ein neuer Unionsvertrag.
Während sich die Fronten in Litauen verhärten, beginnen in Moskau die Verhandlungen. Am Montag und Dienstag traf sich Präsident Gorbatschow mit den drei baltischen Delegationen. Landsbergis berichtete stolz, Gorbatschow habe den von der litauischen Delegation übergebenen Text „mehrere Male“ gelesen. Die harten Worte des Ministerpräsidenten Ryshkow vom Montag haben offenbar nicht zu konkreten Folgen geführt. Landsbergis‘ jetziges Lob für Gorbatschow war jedenfalls auffallend freundlicher als seine vorherige Antwort auf den Gorbatschow-Brief vom Wochenende. Sogar für das Militär hatte Landsbergis nette Worte übrig. Er begrüßte, daß am Dienstag die sowjetischen Luftmanöver eingestellt wurden, obwohl kurz zuvor seine Ministerpräsidentin Prunskiene über die Truppenbewegungen im Land Beunruhigung an den Tag gelegt hatte. Der Kommandierende der Streitkräfte des baltischen Militärbezirks, Generaloberst Kusmin, berichtete inzwischen von einem Gespräch mit Landsbergis, in dem er diesen beruhigt habe. Ferner habe der litauische Präsident weitere staatliche Maßnahmen angekündigt. Die Grenze zum Rest der Union solle markiert werden und es sollten eine eigene munizipale Polizei und eigene Zollorgane entstehen. Die litauischen Wehrpflichtigen würden nicht in die Sowjetarmee einziehen.
Daß die Ängste der Konservativen in der KPdSU keinen breiten Widerhall finden, zeigen auch die Wahlergebnisse vom Wochenende. Der Kohleminister wurde von einem Bergarbeiter aus dem Workuta-Becken geschlagen. Vier Journalisten der beliebten 'Argumenty i fakty‘ wurden auch gewählt. Mittlerweile rücken sogar die als Hoffnung der Konservativen geltenden Gewerkschaften ab. Gestern begann in Moskau ein Gewerkschaftskongreß, auf dem ein unabhängiger Gewerkschaftsdachverband für die RSFSR entstehen soll. Gestern begann auch der Oberste Sowjet mit der Beratung eines neuen Unionsvertrages.
Dominic Johnson
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