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Berlin träumt den Traum der Zwanziger Jahre

■ Der offizielle Kulturbetrieb will Berlin zur Kulturmetropole des vereinigten Deutschlands trimmen / Drei Opernhäuser und sieben große Orchester in der Stadt / Kunstimport soll eingeschränkt werden / Abschied von „großformatigen Spektakeln“

Berlin (dpa) - Ein Mann hat einen Traum, der nun Aussicht hat, bald verwirklicht zu werden: Ulrich Eckhardt, langjähriger Intendant der Berliner Festspiele, hat der Stadt oft mit großem Aufwand in Konkurrenz zur benachbarten Hauptstadt der DDR zahlreiche kulturelle Glanzlichter aufgesetzt. Jetzt sieht er eine neue europäische Kulturmetropole mit traditionellen Beziehungen besonders zu osteuropäischen Metropolen entstehen. „Wir sind ganz plötzlich herauskatapultiert worden aus der Situation einer isolierten und mit Mühe sich hochhaltenden Stadt, die sich mit sehr viel geistigem und materiellem Einsatz an der kulturellen Spitze halten konnte und doch starke Anstrengungen unternehmen mußte, um Menschen anzulocken plötzlich stellt sich das ganz von selbst ein“, meinte Eckhardt. „Wir stehen vor einer neuen Zeit in Berlin, die von den Ressourcen und dem Resonanzboden her wieder sehr viel Ähnlichkeit gewinnt mit der Situation vor 1933, eine mögliche Nähe der kulturellen Palette der 20er Jahre mit der Durchmischung von westlichen und östlichen Einflüssen.“

Aber nichts kann wieder so sein, wie es war. Es gibt seit dem Krieg föderalistische Strukturen, und auch das Publikumsverhalten hat sich verändert. Es stoßen zwei unterschiedliche deutsche Kulturlandschaften aufeinander. Beim „Nachdenken über eine Metropole“ warnte der Berliner Kulturjournalist Christoph Funke in der Zeitung 'Der Morgen‘ vor der „scheinbaren Leichtigkeit“ eines „Zusammenwachsens“ der Berliner Kulturszene. Für die Bundesrepublik habe es seit 1949 das „Kunstzentrum Berlin“ nicht mehr gegeben, während „Berlin, Hauptstadt der DDR“ diese Funktion habe verteidigen können (beziehungsweise müssen), „aber eben nur für das viel kleinere Territorium der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone“. So seien Reibungen unvermeidlich.

Die Theaterszene in Westdeutschland stehe vor einer grundlegenden Umorientierung, meint der renommierte Theaterkritiker Funke. „Wie verhalten sich die großen Theaterstädte - etwa München, Frankfurt, Hamburg, Stuttgart, Düsseldorf, aber auch Bochum - zu dem Anspruch und der Forderung, aus rivalisierender Gleichberechtigung in die Unterordnung zu kommen, den Theater-Souverän Berlin anzuerkennen?“ Kein Theater im neuen deutschen Kunstzentrum werde von diesen Fragen unberührt bleiben, das gelte gleichermaßen für das Deutsche Theater, dem bisherigen Staatstheater der DDR in Berlin wie für die Staatlichen Schauspielbühnen im Westteil der Stadt mit Schiller- und Schloßparktheater, aber auch für die Schaubühne am Lehniner Platz. Viele DDR-Bühnen suchten neue Intendanten. „Noch sind die Bewegungen künstlerischer Kräfte einseitig, aus der DDR und Berlin/Ost in das größere Gebiet der BRD und nach West -Berlin.“

In Berlin werden die bisher durch Grenzen getrennten Konkurrenzen plötzlich zu innerstädtischen Wettbewerben. „Dazu benötigen wir Konzepte, Perspektiven und Impulse“, meinte Festspielintendant Eckhardt. „Im Moment beschäftigen wir uns leider noch zu sehr mit der Abwicklung eingeübter Kulturbetriebsamkeit.“ Das Zusammenwachsen der Berliner Kulturlandschaft mit bestimmten eigenständigen Entwicklungen dürfe jetzt nicht zum „Einheitsbrei“ werden.

Wie wirkt sich „die vollkommene Verfügbarkeit des gesamten Angebots für alle Menschen in dieser Stadt und die Besucher“ aus? Gibt es jetzt Überkapazitäten oder Defizite? Das hat natürlich vor allem mit Geld zu tun, mit Staatsgeldern zum Beispiel, wenn es um Subventionen geht. So müssen in einem künftigen einheitlichen Berlin sieben große Orchester unterhalten werden, unter anderem neben dem (West-)Berliner Philharmonischen Orchester das staatliche Pendant in Ost -Berlin, das Berliner Sinfonie-Orchester und zwei Rundfunk -Sinfonie-Orchester. Und die renommierte Ostberliner „Staatskapelle“ ist ähnlich wie die Wiener Philharmoniker Opern- und Konzertorchester zugleich. Schließlich gibt es drei Opernhäuser in Berlin, die Staatsoper Unter den Linden, die Deutsche Oper Berlin in der Bismarckstraße und die Komische Oper, neben den Musical- und Operettenbühnen Theater des Westens und Metropol-Theater. Eckhardt hält dieses Angebot angesichts des sich nun öffnenden Hinterlands der Stadt nicht für übertrieben. Christoph Funke sieht darin ein „Modell eines einzigartig vielgestaltigen, weltstädtischen Angebots auf dem Gebiet des Musiktheaters“. Die Westberliner Kultursenatorin Anke Martiny (SPD) führt in diesen Tagen Gespräche mit den Intendanten großer Kultureinrichtungen in Ost-Berlin.

Zwar könne Berlin nicht mehr wie früher einen „Ausschließlichkeitsanspruch“ als kulturelles Zentrum erheben, meinte Eckhardt, der die kulturelle Vielfalt des Föderalismus hervorhebt, doch werde Berlin eine „selbstverständliche Mittelpunktfunktion“ einnehmen. „Aus freier Entscheidung, ohne daß der Staat dabei eine Rolle spielt, wird es in den nächsten Jahren immer mehr Menschen nach Berlin ziehen. Wer sich informieren will, muß dann einfach ein paar Tage durch die Berliner Museen, Galerien, Konzerthäuser und Theater ziehen.“

Berlin werde aber Abschied nehmen von „großformatigen Spektakeln“ und zunehmend der Ort werden, „wo Orientierungen erarbeitet werden, im Dialog und im Streit“. Die Stadt werde künftig wieder Kunst mehr selbst produzieren statt importieren. Die frühere oft von Kritikern so bezeichnete „Festivalitis“ sei der Abschnürung der Stadt geschuldet gewesen und gehöre nun der Vergangenheit an. So seien auch zwei Monate im Herbst hintereinander mit Festwochen in West und Ost-Berlin künftig in dieser Form nicht mehr möglich, „da muß man über ein Zusammengehen und Einschränkungen nachdenken, was nicht weniger Qualität heißen muß“.

Wilfried Mommert

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