: „Wir sind ein blödes Volk!“
■ Hunderttausend demonstrierten im Lustgarten gegen Kohl und den 1:2-Umtausch / Die Schauspielerin Käthe Reichelt: „Die DDR ist ein gewaltiger Stall von Kälbern und freudig gehen sie auf die Schlachtbank...“ / SPD gnadenlos ausgepfiffen
Eingekeilt zwischen 100.000 Menschen steht mitten auf dem Alex ein grüner Streifenwagen der Volkspolizei. Aus den Fenstern heraus verteilen Vopos Flugblätter des FDGBs. „Heraus zur Demonstration. Ein Neubeginn mit Wahlbetrug? Mit uns nicht! Gewerkschafter fordern 1:1“. Die Flugblätter mit detaillierten Anschriften sämtlichen Einzelgewerkschafter werden den Polizisten aus der Hand gerissen.
Es ist die größte Demonstration seit vergangenen November, die Kundgebung am Lustgarten beginnt, als die letzten sich am Alex in Bewegung setzen. Rund 100.000 Menschen haben sich versammelt um gegen den Sozialabbau in ihrem Land zu demonstrieren und für einen Umtauschkurs im Verhältnis 1:1 zu streiten. Viele Transparente werden mitgeführt, die meisten handgemalt: „Wie oft sollen die Ostdeutschen den Krieg noch verlieren, Herr Kohl“ wird gefragt und „wer uns verkohlt, der wird versohlt“.
Es sind andere Gesichter zu sehen, als die, deren Bilder im November um die Welt gingen. Die meisten sind grau und müde, viele Rentner sind dabei, Mütter halten ihre Kleinkinder an der Hand, das Volk steht auf der Straße. Und es ist erbittert. „Ich arbeite bei der staatlichen Sozialversicherung“, erzählt eine Frau, „verdiene 760 Mark netto, habe zwei Kinder, brauche um 400 Mark für die Lebensmittel und zahle 146 Mark Miete. Wie soll ich leben, wenn mein Lohn halbiert wird?“ Eine Rentnerin sagt: „Selbst wenn die staatlichen Subventionen in Zukunft auf die Rente drauf gepackt werden, leben wir hier, wenn es nach Kohl gehen sollte, wie die Bettler. Das haben wir davon, daß wir den Anschluß gewählt haben“.
„Wir sind ein blödes Volk“, das meint auf der Kundgebung auch die Rednerin der Vereinigten Linken, „wer nicht wählen kann, muß fühlen“. Und sie bekommt viel Beifall für die Zusammenfassung der Wahlergebnisse. Der Tenor der vielen Redner, angefangen von Helga Bausch, der Vorsitzenden des FDGBs bis hin zu einem Vertreter des Behindertenverbandes ist eindeutig. In der DDR geht die Angst um, die Wirtschafts - und Währungsunion unter Westdiktat bedeutet eine Verarmung der Menschen und eine Demütigung ihres Stolzes. „Die Helden der Straße, werden zu Bettlern der Gosse degradiert“. Gnadenlos wird SPD-Sprecher Krüger ausgepfiffen, seine Worte gehen rettungslos in den Rufen „aufhören, aufhören“ unter. Man verzeiht der SPD nicht, daß sie sich der CDU „an den Hals geworfen hat“.
Totenstill wird es am Lustgarten, als die Schauspielerin Käthe Reichelt leidenschaftlich und dramatisch die Situation im Land beschreibt. „Die DDR ist ein gewaltiger Stall von Kälbern, und freudig gehen sie auf die Schlachtbank, denn sie werden mit einem westdeutschen Messer abgestochen. Mit einem Messer aus Kruppstahl!“. Aber Kohl, „der seinem Namen alle Ehre gemacht hat“, wird sich wundern; Käthe Reichelt warnt den Schlächter und macht den Beleidigten in der DDR Mut. Die „Kriegserklärung“ aus Bonn, wird nicht angenommen werden, „die Revolution läßt sich nicht kaufen, wir sind das Volk!“.
aku
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