: Neue gewerkschaftliche Horizonte
■ DGB-Chef Heinz-Werner Meyer sendet rot-grüne Signale aus KOMMENTAR
Wenn der ehemalige Vorsitzende der IG Bergbau jetzt in seiner Eigenschaft als DGB-Vorsitzender so etwas wie eine rot- grüne Gewerkschaftspolitik vorschlägt, dann muß die Verunsicherung über einen drohenden Bedeutungsverlust der Gewerkschaften sehr tief sitzen. An der Oberfläche kann der DGB durchaus Erfolge vorweisen: Seine Mitgliedszahl ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen, seine Kompetenz bei der Artikulation sozialpolitischer Interessen ist weithin unbestritten, die Arbeitslosigkeit im westlichen Teil der Bundesrepublik ist dank einer anhaltenden Hochkonjunktur im Verein mit der von den Gewerkschaften durchgesetzten allgemeinen Arbeitszeitverkürzung deutlich gesunken.
Und doch hat sich in großen Teilen des Apparates und der Mitgliedschaft das Gefühl verdichtet, von den relevanten politischen Auseinandersetzungen im Lande zunehmend abgeschnitten zu sein.
Besonders die beiden großen Einzelgewerkschaften IG Metall und ÖTV hatten in den letzten Jahren eine Zukunftsdiskussion mit ganz ähnlichen Inhalten geführt, wie sie jetzt auch von Heinz-Werner Meyer aufgegriffen worden sind: Ökologisierung, Feminisierung, Individualisierung waren auch hier die wichtigsten Stichworte. Diese Diskussion entstand aus der Kontinuität der westdeutschen Gesellschaft, hatte ihre sozialen Bezüge in den neuen sozialen Bewegungen seit '68 und zielte auf eine gesellschaftpolitische Reform mit rot-grünem Profil. Der DGB als Dachorganisation hatte sich aus dieser Diskussion weitgehend herausgehalten, schließlich hat er auch Gewerkschaften in seinen Reihen, die eine derartige Reformperspektive bis heute vehement bekämpfen.
Wenn Meyer nun mit seinem Auftritt in Hattingen seinen Willen zur programmatischen und organisatiorischen Erneuerung kundgetan hat, muß das für den schwerfälligen DGB-Apparat noch nicht viel heißen. Auch Franz Steinkühler mußte in der IG Metall die Erfahrung machen, daß die größten Widerstände gegen Veränderung nicht von der Führung oder der Mitgliederbasis kommen, sondern vom mittleren Apparat auf Orts- und Bezirksebene. Aber immerhin kann das Signal Meyers dazu beitragen, politische Weichen zu stellen. Wenn die Gewerkschaften sich etwa die Ökologie zur ureigensten Aufgabe machen, hat der in jedem Einzelfall wieder neu zu lösende Konflikt zwischen sozialen und ökologischen Interessen viel von seiner politischen Brisanz verloren. Jede Reformpolitik braucht eine soziale Basis in der Bevölkerung. Erstmals besteht die Chance, daß rot-grüne Reformpolitik auch von den Gewerkschaften aktiv getragen und mitformuliert wird. Martin Kempe
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