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DGB wagt Abschied von den alten Konzepten

Kongreß in der DGB-Bundesschule diskutiert gewerkschaftliche Zukunftsperspektiven/ Gutachten fordert radikale Reformen und Öffnung zu neuen sozialen Bewegungen/ Selbstkritischer DGB-Chef Meyer verlangt erstmals die „soziale Grundsicherung“  ■ Aus Hattingen Martin Kempe

Grollend hatte sich der Alte aus Salzburg gemeldet: Es sei ja sehr erfreulich, daß nun auch für die Gewerkschaften der Begriff „Zukunftswerkstatt“ hoffähig geworden sei. Aber bei Durchsicht des Materials habe er nichts gefunden, was diesen Namen verdiente. Robert Jungk war nicht geladen, als es in der DGB-Bundesschule in Hattingen um eine Perspektivdiskussion gewerkschaftlicher Politik ging. Grundlage des Gesprächs zwischen gewerkschaftsnahen WissenschaftlerInnen und meist hauptamtlichen DGB-FunktionärInnen war ein Gutachten von Vertrauensdozenten der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung, das schon im Titel Distanz zur gegenwärtigen Politik signalisierte: „Jenseits der Beschlußlage — Gewerkschaften als Zukunftswerkstatt“.

Die AutorInnen des Gutachtens räumten durchaus ein, mit dem Begriff „Zukunftswerkstatt“ in fremden Gefilden gewildert zu haben. Denn mit dem, was der von Jungk kreierte Begriff meint, hat der Zukunftsentwurf des Gutachtens wenig gemein. Es geht nicht um jene dezentralen und autonomen Basisaktivitäten, in denen wünschenswerte gesellschaftliche Entwicklungen beispielhaft vorweggenommen werden, sondern um den Neuentwurf einer Politik für die große, bürokratisierte Massenorganisation DGB. Und dennoch, so meinen die VerfasserInnen des Gutachtens, ist der Begriff „Zukunftswerkstatt“ nicht falsch, weil die Spielräume einer reformerischen Politik in der Bundesrepublik nicht zuletzt von der Reform- und Wandlungsfähigkeit des DGB und der Einzelgewerkschaften abhängen.

Die Zusammenfassung der wesentlichen Thesen des Gutachtens, die der Hamburger Sozialwissenschaftler Jürgen Hoffmann in Hattingen vortrug, lese sich streckenweise wie ein „radikalfeministisches Manifest“, meinte die Frankfurter Soziologin Ute Gerhard anerkennend, wenn auch mit ironischem Unterton. Da werden ganz entgegen gewerkschaftlicher Tradition die „differenzierten, subjektiven Erfahrungen der Individuen“ als positive Chance zur Solidarität hervorgehoben. Die Erwerbsarbeit dürfe nicht länger alleiniges Zentrum sozial- und gewerkschaftspolitischer Vorstellungen sein, und der vorwiegend aufs Ökonomische reduzierte Interessenbegriff müsse abgelöst werden von einer umfassenden Öffnung hin zu anderen politischen Kulturen. Die offene und versteckte Männerzentriertheit der Gewerkschaften müsse aufhören und damit die Fixierung auf ein — männlich definiertes — Normalarbeitsverhältnis. Davon unterschiedene Lebensentwürfe müßten von den Gewerkschaften ebenso positiv aufgegriffen werden wie die Existenz einer multikulturellen Gesellschaft. Und dann sollten die Gewerkschaften wegkommen von ihren bürokratisierten, zentralistischen Politikkonzepten. Gefragt sei vielmehr eine dezentrale, projektbezogene Arbeitsweise, in der die Solidarität zwischen unterschiedlichen sozialen Interessen in einem vielfältigen, lebendigen „diskursiven Prozeß“ erarbeitet werden könne.

Nicht besser als der ADAC

Alles in allem läuft der Vorschlag der Gutachter darauf hinaus, daß die Gewerkschaften sich in ganz anderer Weise als bisher zu den neuen sozialen Bewegungen hin öffnen müssen, wenn sie auf die Dauer politikfähig bleiben wollen. Tun sie es nicht, verlieren sie den lebendigen Kontakt zur politischen Auseinandersetzung im Land und werden zur allein ökonomisch orientierten Pressuregroup für ihre traditionelle Arbeiterklientel — ein Verein, nicht besser und nicht schlechter als der ADAC, allerdings mit schrumpfender Basis. Wenn sie jedoch als reformerische Kampforganisation für eine gesamtgesellschaftlich verstandene Wohlfahrt überleben wollen, müssen sie sich den großen Themen der Gegenwart zuwenden, sich aktiv für eine ökologische Wende der Industriegesellschaft, für eine tatsächliche Gleichstellung der Frauen, für radikale Demokratie und ein neues Verhältnis zur Dritten Welt einsetzen.

Das scheint sich inzwischen auch beim Bundesvorstand des DGB und seinem Vorsitzenden, Heinz-Werner Meyer, herumgesprochen zu haben. „Andere sind mit uns nicht zufrieden, und wir selbst spüren, daß es so nicht einfach weitergehen kann“, stellte er zu Beginn der Hattinger Konferenz fest. Meyer nannte in einer programmatischen Rede drei Bereiche, in denen „dringlicher Handlungsbedarf“ bestehe: die Erweiterung der tarif- und sozialpolitischen Konzepte des DGB, die „notwendige Öffnung für Umweltprobleme“ und schließlich die Reform des DGB selbst.

Im sozialpolitischen Teil setzte sich Meyer — eine kleine politische Sensation für die Gewerkschaften — für eine „soziale Grundsicherung“ ein. Auch das klassische Normalarbeitsverhältnis wird in Zukunft nicht mehr allein im Mittelpunkt der DGB- Politik stehen, weil es immer mehr Menschen gibt, die gezwungen oder aus freien Stücken in anderen Arbeitsverhältnissen leben. Und die Forderung nach Chancengleichheit für Frauen müsse „praktische gewerkschaftliche Konsequenzen haben“, statt sie wie bisher an den Staat zu delegieren. „Die Konflikte der neunziger Jahre“, so Meyer, „werden nicht mehr in erster Linie klassische Verteilungskonflikte sein. Sie werden Konflikte um Lebenschancen und die Verwirklichung von Lebensentwürfen sein.“ Auch in der Ökologie will Meyer davon weg, Umweltschutz nur immer zu fordern, aber selbst nichts dafür zu tun. Er will die Gewerkschaften vor allem durch eine veränderte Betriebspolitik zum Träger ökologischer Interessen machen. Aber: „Selbst dazu beitragen, erfordert mehr Kompetenz, Denken in ungewohnten Bahnen und vor allem Konfliktfähigkeit.“ Für den DGB als gewerkschaftlichen Dachverband, der nicht wie die Einzelgewerkschaften an enge Brancheninteressen gebunden ist, sieht er die Aufgabe, außer- und innerbetriebliche Umweltinteressen miteinander zu vermitteln.

Der DGB soll nach Meyers Vorstellungen in Zukunft dezentraler arbeiten. Nur so seien größere Vielfalt, mehr Toleranz und Mitgliedernähe möglich. „Daß Einigkeit herrschen muß, egal wer und was dabei unterdrückt wird, ist ein gewerkschaftlicher Grundirrtum“, meinte der Vorsitzende des DGB. Zwar bleiben die alten sozialen Fragen aktuell, aber die Gewerkschaftsbewegung müsse die neuen Chancen der Emanzipation des Individuums und die neuen Gefahren für das Überleben der Menschheit „mit ihren gewerkschaftlichen Möglichkeiten aufgreifen“.

Wieweit jedoch die Gewerkschaften von dieser Praxis noch entfernt sind, wurde in den Arbeitsgruppen sichtbar. Da wurde zum Beispiel berichtet, daß es immer noch Frauenausschüsse gibt, die ohne Einwilligung ihres örtlichen Vorsitzenden keine einzige frauenpolitische Erklärung herausgeben dürfen.

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