: „Junkies im Bus zum Rathaus“
■ Ostertor'sche planen Aktionen gegen fehlende Drogenpolitik des Ampel-Senats
Die Anwohner des neuen Junkietreffpunkts „Ostertorpark“ und Körnerwall wollen Protestaktionen organisieren. Am Mittwochabend verabredete eine Anwohnerversammlung im Ortsamt Mitte die Bildung einer Aktionsgruppe. „Und wenn wir gemeinsam mit den Junkies mit dem Bus zu Wedemeier fahren, damit der mal merkt, worum es geht“, meinte Rainer Büsing vom „Reiseladen“ am Körnerwall. Dem Beschluß vorangegangen war eine Diskussion unter Anwohnern, Junkies, PolitikerInnen und BehördenvertreterInnen — engagiert, voller Emotionen, an einigen Stellen bewegend und erstaunlich sachlich.
Der obere Saal im Ortsamt war zum Bersten voll, einige standen auf dem Flur, einige mußten nach Hause gehen, weil sie keinen Platz mehr gefunden hatten. Für viele war es die x-te Debatte zu diesem Thema. Die Ungeduld war der Unterton in vielen Beiträgen, doch an der Stimmung bei den Anwohnern rund um die neuen Drogentreffs blieb die Atmosphäre im Saal weitgehend zivilisiert. „Diese ruhige sachliche Art, das macht das Viertel aus“, meinte Hucky Heck zufrieden am Ende.
„Jeden Tag sterben Menschen vor unserer Haustür und nichts passiert“, begann Büsing die Diskussion und fragte: „Wer ist hier im Saal, der die politische Verantwortung dafür übernimmt?“ Vom Senat war niemand da, das wurde mit Murren quittiert. Und für die komplette Drogenpolitik im Viertel mochte so recht niemand geradestehen. „Na dann sind Sie teilverantwortlich“, meinte Büsing zu den BehördenvertreterInnen und den Abgeordneten, die doch gekommen waren. „Halb“, meinte da Elke Steinhöfel von der SPD, sichtlich irritiert von der direkten Frage.
Die PolitikerInnen hatten es schwer an diesem Abend. „Deine Belehrungen haben wir nicht mehr nötig“, mußte sich Karoline Linnert von den Grünen am Ende sagen lassen. Sie hatte noch einmal versucht, die Politik der Ampel zu verteidigen und damit nur wenig Sympathien geerntet. Das war es nicht, was die Anwohner hören wollten. Die Schwierigkeiten bei der Wohnraumbeschaffung für Junkies, die Probleme der Dezentralisierung — „das können wir schon rauf- und runterbeten“, meinte ein Mann, „jetzt muß es um Sachen gehen, die schnell umgesetzt werden können.“ Und ganz hoch gingen die Wogen bei den Vorschlägen von Linnert und Steinhöfel, die Öffnungszeiten der Drogenberatungsstelle in der Bauernstraße wieder auszuweiten. „Nicht alles hier im Viertel“, bekamen die Politikerinnen zu hören. „Ihr macht euch seit Jahren zu den Anwälten der feinen Stadtteile.“
Das „Viertel“ fühlt sich an seiner Belastungsgrenze, das machte der Abend deutlich. In dieser Stimmung gab es am meisten Beifall für drei Forderungen: betreute Druckräume in allen Stadtteilen, Dezentralisierung aller Angebote für Abhängige und letztlich die kontrollierte Freigabe von Heroin. Gerade die immer wieder geforderte „Dezentralisierung“ scheint sich zum Zauberwort für die Diskussion zu entwickeln, als sei es allein nötig, die Infrastruktur für Junkies in anderen Stadtteilen auch anzubieten, und schon habe sich die Scene in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Hinter der Hoffnung steht die blanke Not. Einem Mann aus der Kreftingstraße bricht die Heimat weg: „Vor 20 Jahren haben wir hier ein Haus in Ordnung gebracht und lange habe ich gern im Viertel gelebt. Aber die permanente Konfrontation mit Leuten, die sich aufgegeben haben, das kann ich nicht mehr verkraften.“ Es ginge ihm nicht um 'heile Welt', sondern um die gerechte Verteilung des Problems. „Das muß Politik leisten, das Problem betrifft die ganze Stadt.“
„Meine Liberalität ist den Ausguß runter“, meinte Sigi Wegner, früher für die Grünen im Beirat Mitte, und traf damit den Nerv bei vielen. Und das Erschrecken über die aufkommende 'weg mit-Mentalität' bei den Linksgrünliberalen war ein Leimotiv der Viertel- Bewohner. Am kommenden Mittwoch um 20 Uhr will sich die Aktionsgruppe im Ortsamt treffen und die erste Aktionen beraten. Jochen Grabler
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