: „Und warum haben Sie sich gar nicht gewehrt?“
■ SchülerInnen im Gespräch mit dem Ghetto-Überlebenden / Auch in die Gegenwart und Zukunft schauen, auch nach Bosnien
Sie kommen rein mit dem ganzen Schwung, den 17-, 18jährige mitbringen können, Kopfhörer um den Hals, einen Yoghurt in der Hand. Der wird in der ersten Reihe noch gegessen, bevor es losgeht. Sie gucken zurückhaltend und aufmerksam: ein alter Mann mit schwierigem Namen ist gekommen, der ihnen etwas vorlesen will: Arnold Mostowicz aus Lodz, ein Überlebender des Ghettos, ein Überlebender von Auschwitz.
Diese 70 Schülerinnen und Schüler aus verschiedenen Kursen der 12. und 13. Jahrgänge am Schulverbund Lesum sind verblüffend. Sie hören geschlagene eineinhalb Stunden mucksmäuschenstill zu. Dabei ist Mostowicz manchmal nicht leicht zu verstehen, und sein Buch ist eine komplexe, literarische Bearbeitung des jüdischen Themas. „Das Buch ist wahr“, sagt Mostowicz gleich am Anfang, „und ich will mich erst mal entschuldigen für meinen schrecklichen Akzent!“ Mostowicz stellt sofort klar: „Der junge Mann in dem Buch bin ich!“ Dann greift er das Buch und liest, redet, erklärt, eindringlich und ohne Berührungsängste: „Verstehen Sie Selektion? Rechts zum Leben, links zum Gas.“ Nach 30, auch nach 60 Minuten hören die SchülerInnen immer noch zu: Der Lagerarzt im Buch fachsimpelt mit einem neuangekommenen jüdischen Häftling, der auch Arzt ist. Nebenbei, fast unmerklich, die Selektion, der Krach, die Rampe, die „Wasserhähne in der Gaskammer, so falsch wie das Lächeln der Uniformierten...“
Nach kurzem Zögern kommen die Fragen. Woher konnten die Häftlinge die Erfolge der Sowjets kennen? Sofort ist die literarische 3. Person aus dem Buch vergessen. „Man hat uns doch immer weiter nach Westen deportiert!“ ruft Mostiowicz. Wie er das findet mit den Anschlägen in unserem Deutschland, oder daß alle nichts gwußt haben? „Das ist eine Lüge! Wir sind nach Hirschberg verlegt worden, die letzten Kilometer mitten durch den Ort — die Menschen auf den Straßen haben uns nicht angesehen. Aber alle mußten es wissen!“
In der ersten Geschichte gibt es keine Leichenberge, sondern mehr Details, die genau zeigen, daß das alles Menschen sind, findet ein Schüler. Daß man es sich gut vorstellen kann. Das Schlimmste vom Schlimmen, das bringt es nicht. Der Schock kommt durch die kleinen Details. Mostowicz freut das.
Judenräte im Ghetto haben Transporte mit vorbereitet, „sie haben gehofft, einige zu opfern, um jedenfalls andere damit retten zu können, wenn man es schon mit Mördern zu tun hat“, versucht Mostowicz in das Problem einzuführen. Seine zweite Geschichte handelt davon: Der Arzt kann Menschen vom Transport zurückstellen — aber dann muß ein anderer auf die deutsche Liste. Mostowicz war Arzt. Welche Gewinne machte denn das Ghetto? Hatten Sie keine Waffen wie in Warschau? Warum haben Sie keine Steine geschmissen oder Molotow- Cocktails? Warum haben die für die Wehrmacht noch die Schuhe gemacht!!!
Immer wieder diese Frage. „Wer immer hungrig ist, macht keine Revolte“, ist Mostowicz' schlichte Antwort, „Menschen haben sich selbst zur Deportation gemeldet nur in der Hoffnung auf eine Suppe mehr.“
Als der Gong geht, springt niemand auf. Einige wollen vorn noch weiterreden, hören, ob der Gast etwa!? die Siedlungspolitik Israels gutheiße. Eine Schülerin findet leise: Der Blick in die Vergangenheit muß doch Gegenwart und Zukunft beleuchten: Das in Bosnien erinnert mich so daran!“ Vorhin, als es um das jüdische Thema ging, hatte sie es nicht sagen wollen: „Ich fand das unpassend.“ S.P.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen