Sanssouci
: Großstadt-Stükke

■ David Greenspans „Tote Mutter...“ im Theater Stükke

Auf einem Stuhl räkelnd durchlebt Sylvia in ekstatischer Erinnerung noch einmal ihre erste Liebesnacht mit Harold im Park. Aber die Zeiten gemeinsamer Orgasmen sind vorbei. Harold (David Wilms) hatte inzwischen sein schwules Coming-out, und so bleibt Sylvia (Lisa Adler) vom Honeymoon nur noch der einsame Mond am Sternenhimmel.

Indessen muß Harold in die Rolle seiner toten Mutter Shirley schlüpfen, um die Heirat seines Bruders Daniel (Rainer Reiners) mit Maxine (Andreja Schneider) zu sichern. Denn Maxines seniler Vormund will erst in die Heirat einwilligen, wenn er Daniels Mutter kennengelernt hat. Als Harolds Vater (Felix Bresser) unangemeldet in das delikate Familientreffen platzt, droht der Schwindel aufzufliegen.

Nach Brad Frazers „Unidentifizierte Leichenteile und das wahre Wesen der Liebe“ zeigt „Stücke für die Großstadt“ mit David Greenspans „Tote Mutter oder Shirley nicht alles umsonst“ ein weiteres Werk eines schwulen Autors der amerkanischen Off-Theaterszene. Das Stück ist eine Collage aus Familiendrama, Geschlechterfarce, Mythologie, Vision und Komik. Die sprachliche Farbigkeit, die auch in der deutschen Übersetzung von Andreas Pegler erhalten geblieben ist, vermittelt weit mehr als die vordergründigen Bedeutungszusammenhänge: Die erschließen sich am ehesten, wenn man die wilden Ereignisse an sich vorüberziehen läßt, ohne analytisch enträtseln zu wollen. Greenspan erklärt nicht, er zeigt.

Regisseur Donald Berkenhoff ist ein wenig zu fleißig bemüht, dieser Wirkungsweise entgegenzuarbeiten. Durch eingeschobene szenische Lesungen will er das Gezeigte verdeutlichen. Großartige inszenatorische Momente gelingen ihm aber vor allem, wenn er sich auf die sinnliche Erfahrungsbereitschaft des Publikums verläßt und die lebendig-chaotische, verwirrend-rasante Dramatik des Stückes unmittelbar auf der Bühne umsetzt. Etwa in dem eingeschobenen parodistischen Drama über griechische Götter. Ausgestattet mit einem bis unter die Knie baumelnden Penis fickt Göttersohn Paris ein mechanisch blökendes Stoffschäfchen. Dabei stöhnt er das aus mythischer Vergangenheit geschöpfte Ideal vom männlichen Helden hinweg. Wenn Aphrodite Paris' Gunst gewinnt, ruft sie verzückt „Ich, Schaumgeborene“ und streichelt sich beziehungsreich über ihren fetten Leib aus Schaumgummi.

Zurück auf der Erde, beginnt das große Finale des Familiendramas. Es wird aufeinander eingeschrien oder monologisiert. Niemand erträgt die Wahrheit über die eigene Beziehungs- und innere Orientierungslosigkeit. Grennspan fragmentiert und entblößt die bürgerliche Scheinwelt und läßt ihre amorphen Einzelheiten aufsteigen.

Das Schauspielerensemble von „Stücke für die Großstadt“ überzeugt einmal mehr mit viel Spielwitz und großer darstellerischer Farbigkeit. Die Bühnenausstattung mit ihren wenigen Requisiten und die sensible Lichtgestaltung konzentrieren sich auf das Wesentliche. Im neuen Theater Stükke hat das Ensemble nun eine feste Spielstätte, und das Publikum kann sich über die Ausstattung freuen: keine Rückenschmerzen mehr und trotzdem gute Sicht auf gutes Theater. Michael Fuchs

„Tote Mutter oder Shirley nicht alles umsonst“: heute, 20 Uhr, im Theater Stükke, Hasenheide 54