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Erbauliche Sanges-Kunst

■ Die kontrovers diskutierte Hamburger Liedertafel Margot Honecker hat ihre zweite Mikrorillenplatte veröffentlicht

hat ihre zweite Mikrorillenplatte veröffentlicht

In einer kapitalistisch durchseuchten Welt gibt es nur wenige, die die Idee des Sozialismus hochzuhalten vermögen. Während die breite Masse der DDR-Bevölkerung nach Jeans, Bananen und Westautos schrie, blieben ein paar der sozialistischen Tradition treu. Die Mädels und Knaben der Liedertafel Margot Honecker sind solche standhaften Menschen, die den Versuchungen des schleimigen und dekadenten Kapitalismus nicht erliegen konnten. Die Vier aus Eisenhüttenstadt pflegen hier – mitten in Hamburg – die erbauliche Sanges-Kultur des annektierten Landes.

Gerade haben Ramona Seifert, Sabine Petermann, Falk Klennert und Gregor Adolf ihre zweite Mikrorillenplatte veröffentlicht. Der Titel Vorwärts, Freie Deutsche Jugend zeigt genauso wie die korrekte Kleidung – blaues FDJ-Hemd für die Knaben, weiße Blusen und Schleifen im Haar bei den Mädchen – ihre Tugendhaftigkeit. Ähnlich ihrer ersten Platte, die ebenfalls bei den Walter Ulbricht Schallfolien erschien, kann auch bei dieser Musikdarbietung sozialistisches Liedgut in reinster Form genossen werden: Bei dem Titelstück werden schmetternde Trompeten von schnarrenden Fähnlein-Trommeln untermalt, die hohen Mädchenstimmen passen gut zu den dunkleren Tönen der heranwachsenden Männer.

Auch die zwei weiteren Stücke auf der Mikrorillenplatte leben von dem harmonischen Chor, allerdings sind sie weniger orchestral gestaltet, hier wird der einfachen Orgel und dem – nicht ganz sozialistisch korrekt – Drumcomputer der Vorzug gegeben. Bei dem Lied „überall FDJ“ hat man den Eindruck, es ähnele ein bißchen dem „LPG-Lied“ der ersten Platte, doch die eingestreute Sandmännchen-Melodie versöhnt wieder – schließlich hat Westdeutschland das Überleben des Sandmännchens im Fernsehen dem vehementen Protest von ostdeutschen Müttern zu verdanken.

War die erste Platte der Liedertafel Margot Honecker noch absolut sozialistisch einwandfrei, haben sich bei der zweiten schon imperialistische Anleihen eingeschlichen. Das Lied „Die Leipziger Messe“, mit Akustik-Gitarre begleitet, preist die Messe als „das größte Kaufhaus der Welt“. Sind dies nicht schon marktwirtschaftliche Töne? Auch beim orchestralen „Vorwärts, Freie Deutsche Jugend“ gleitet der Ton leicht ab in einen Soundtrack zum Abenteuer-Film westlichen Geschmacks. Liedertafel, das ist westliche Machart!

Als ideologischer Ausgleich für diese Mäkel ist der Mikrorillenplatte eine Ansprache auf Magnettonband beigelegt. Dr. Kurt Euler, Vorsitzender der Parteikommission für Fragen des Kulturkampfes und der Volksbildung beim ZK der Kommunistischen Einheitspartei Deutschlands, spricht über die westliche Dekadenz und den Sieg der Vernunft. Diese erbauliche Rede wurde bereits voriges Jahr in der Fachhochschule Armgartstraße

1gehalten und bot dort Anlaß zu heftigster Verwirrung beim Lehrpersonal (die taz berichtete).

Wer die Liedertafel Margot Honecker und Dr. Kurt Euler kennenlernen möchte, sollte heute nachmittag zum Hamburger Plattenladen Unterm Durchschnitt (Durchschnitt 13) pilgern. Dort findet eine Sig-

1nierstunde bei Kaffee und Kuchen statt. Der Inhaber des Plattenladens, einer der „letzten Kämpfer für das stalinistische Ideal“ wie Sabine Petermann ihn beurteilt, bittet anläßlich der Signierstunde „um eine gepflegte äußere Erscheinung“, Punks hätten keinen Zutritt. Greta Eck

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