Sanssouci: Vorschlag
■ „L'Amour Noir“ vom ThéÛtre de la Sphère im Tacheles
Die Sonne geht nicht auf in „L'Amour Noir“ – Anne Siccos düster-verwunschenen Bildervisionen zu Bram Stokers „Dracula“. Der Rechtsanwalt Jonathan Harker wird hier zum Reisenden, der im Karpatenschloß nicht Graf Dracula, sondern dem eigenen, abgespaltenen Ich begegnet. Verhalten und servil ist sein sprachloser Schatten, der zuckend und unter schnaubenden Geräuschen die Taten begeht, die der Reisende nach und nach als die eigenen erkennen muß. Er wandert durch eine dunkle, von bizarren Gestalten bevölkerten Bildwelt, in der sich der Mord an dem Mädchen Lucie wiederholt, bis er schließlich selbst – die Hände noch an ihrer Kehle – vor der Leiche steht.
Kein Gruselkabinett, sondern schwarze Romantik zelebriert Anne Sicco, der zwei geschnitzte Holzsessel und eine hervorragende Lichtregie genügen, um das transsilvanische Schloß zu imaginieren. Schloß-, Fischerdorf- und Psychiatrieszenen folgen in kurzen, hart aneinandergeschnittenen Bildsequenzen. Die Grenzen zwischen den irrealen Ebenen lösen sich auf, eine delirierende Phantasmagorie. Der Psychiatriepatient, eingesperrt in ein grell-weißes Lichtquadrat, verläßt sein Gefängnis, wandert ab in eine andere Welt und kehrt auch auf das Flehen des sich in Fischernetze verhakenden Anstaltsarztes nicht zurück. Wie sich überlagernde und ineinander eindringende Traumschichten hat Anne Sicco „L'Amour Noir“ inszeniert. „Ihr Feuer ist kalt, mich schaudert, ich friere in der Nacht“, sagt der Reisende zu seinem Schatten, als er seine Hände einem Kaminfeuer entgegenstreckt. Und faszinierend und kalt ist diese Traumwelt, in der das Leben aus den Figuren schon halb entwichen und sie in ewige Dämmerung verbannt zu sein scheinen. Allerdings gehen die Menschen zu sehr mit dem Unheil schwanger, schleppen sich bedeutungsschwer über die Bühne – ohne daß dies auf inhaltlicher Ebene immer seine Entsprechung findet. Großartig sind die Szenen von Mutter und Tochter, in denen die Mutter nichts wahrnimmt von dem Unheil, das ihrem Kind geschieht.
„L'Amour Noir“ oder „Der Wächter der Nacht“ ist die größte Produktion, die bislang im Theatersaal des Tacheles zu sehen war. Anne Sicco und ihr „ThéÛtre de la Sphère“ veranstalten ordentlichen Bühnenzauber: jede Menge Regen und eine raffiniert genutzte Lichtanlage. Hoch über dem Bühnenboden schwebt eine Frau – nur ihr zum Schrei verzerrtes Gesicht und die Arme, die sich einem auf dem Boden windenden Ungeheuer entgegenstrecken, sind zu sehen: perfekte Bilderzauberei. Eine in den Raum gebaute Guckkastenbühne, die die zerbröckelnden Wände des Tacheles nur als Zierde duldet, läßt allerdings einiges des herben Charmes dieser Räumlichkeiten verschwinden. Michaela Schlagenwerth
Täglich bis einschließlich 27.6. um 20.30 Uhr im Tacheles, Oranienburger Straße 54-56 in Mitte. Termine des Filmbegleitprogramms, zusammengestellt von Anne Sicco: siehe Programmteil.
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