: Graswurzelcomputercoevolution Von Mathias Bröckers
In den 60er Jahren in San Francisco einen LSD-Trip zu machen, war nichts Besonderes; dabei auf alle möglichen und unmöglichen Ideen zu kommen, ebenfalls nicht. Sie aber am nächsten Tag als Litfaß-Sandwich spazieren zu tragen, war schon etwas außergewöhnlich. Die Reaktionen auf Stewart Brands Idee oder besser Frage, die er vor der Berkeley- Universität spazieren trug — „Wo bleibt eigentlich das Bild der ganzen Erde?“ – waren ebenfalls außergewöhnlich: Eine Menge Leute fühlten sich angesprochen. Und wunderten sich, warum das Weltraum-Porträt der Erde von außen trotz Raumfahrt und Mondlandung niemanden interessierte. Brand bekam sein Bild, und seitdem leuchtet es auf dem Titel der Zeitschrift, die im Sommer 1968 erstmals erschien: Whole Earth Catalog. Vom Sinn und Zweck des Katalogs kündete der Untertitel „Access to Tools“, und dieser „Zugang zu Werkzeugen“ war wörtlich zu verstehen: Der Katalog bestand ausschließlich aus Empfehlungen von Do-it- yourself-Büchern, Magazinen, Gruppen – eine Art „Hilfe zur Selbsthilfe-Almanach“ für die Szene, mit einem der ganzen Erde angemessenen Themenspektrum: von Selbstbau-Bio-Häusern über heimische Elektronik-Labors zur sanften Geburt, von Anleitungen zur Pilz-Zucht über „Animal Rights“ bis zur Konstruktion von Weltraum-Siedlungen. Ziemlich bald wurden unter der Rubrik „Schwierig, aber machbar“ auch Artikel und Rezensionen aufgenommen, und die aus den Einzelausgaben zusammengestellten Bücher brachten dem Non-Profit- Projekt periodisch sogar wirkliche Einnahmen. Vor allem als 1972 der Last Whole Earth Katalog den National Book Award erhielt. Das Magazin hieß eine Weile CoEvolution-Quarterly, um dann zu seinem mittlerweile klassisch gewordenen Namen zurückzukehren. Seitdem, und soeben mit der 25jährigen Jubiläums-Ausgabe, erscheint vierteljährlich die Whole Earth Review – für mich nach wie vor die interessanteste Zeitschrift der Welt. Hier las ich zum ersten Mal von James Lovelocks Gaia-Theorie, die die Erde als Lebewesen begreift, von der Chaostheorie, dem Prinzip der Selbstorganisation – aber auch vom Außerirdischen als altem Wegbegleiter der Menschen, von psychedelischen Lebensmitteln als Ursache der Religionen oder von virtuellen Computer-Realitäten. Dies alles nicht im gelackten Stil des allfälligen Trend- und Zeitgeistgeschwätzes – Whole Earth hat weder Anzeigen noch Farbfotos – und auch nicht im schwelgenden Sound von New-Age- oder Eso-Blättern. So futuristisch und technizistisch manche Themen daherkommen, so erdgebunden und graswurzelartig ist das Ganze, und eben diese Mischung – aus Birkenstock-Sandale und Cyberspace, Bio-Landbau und Weltraumfahrt, praktischer Politik und ekstatischer Vision – macht dieses Magazin einzigartig im Blätterwald. Nicht nur, weil es wie alle nicht- kommerziellen Projekte zu den bedrohten Arten zählt (letztes Jahr wurden 30.000 Dollar Minus erwirtschaftet) verdient es Unterstützung – es gibt kein Heft ohne mindestens einen absolut spannenden Artikel. Das Abo kommt (seit Jahren zuverlässig) für 33 Dollar ins Haus: Whole Earth Review, P.O. Box 38, Sausolito, CA 94966, U.S.A. Fax: 415/332 31 10.
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