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Der König ist der letzte Belgier

Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Flamen und Wallonen wirkt als Spaltpilz, die Separatisten rufen nach einer Konföderation  ■ Aus Brüssel Erwin Single

König Baudouin braucht keine Angst um sein Amt zu haben. Seit sich die vier Regierungsparteien in Belgien nicht auf einen Sparplan einigen konnten, hat der Monarch, in dem viele den letzten Belgier sehen, alle Hände voll zu tun, um die Streithähne zum Einlenken zu bewegen. Seit Monaten schon wimmelt es nur so von Vorschlägen im Haushaltsstreit. Wenn diese aber in konkrete Beschlüsse umgemünzt werden sollen, kommt nicht viel dabei heraus.

Noch bei der letzten Sparrunde flüchtete sich das rot-schwarze Kabinett wie schon bei den zwei Versuchen zuvor in eine massive Erhöhung der Steuer- und Sozialabgaben. Mit einer zusätzlichen Krisensteuer von drei Prozent sollen rund 33 Milliarden Belgische Franken in die Kasse kommen. Eine drastische Ausgabenreduzierung bei der Kranken- und Arbeitslosenversicherung sowie bei den Renten wurde vertagt. Dabei fressen allein die Zuschüsse für die Sozialversicherung, immerhin stolze 195 Milliarden Franc, den Löwenanteil des Etats auf.

Doch gerade die Sozialversicherung ist es, die zur Brechstange für Belgiens Einheit werden könnte. An ihr entzündet sich nämlich der Grundsatzkonflikt zwischen den flämischen Christdemokraten und den wallonischen Sozialisten: den einen sind Steuererhöhungen zu einseitig, den anderen gehen Einschnitte in das staatliche Leistungsnetz viel zu weit. Denn die Flandern wollen sich nicht länger von den Wallonen ausbeuten lassen. 70 Prozent des Budgets, haben sie errechnet, kommt aus dem niederländisch sprechenden Landesteil, aber nur 60 Prozent fließen dorthin zurück. Die verarmte Wallonie aber braucht das Geld, um die massiven Arbeitsplatzverluste der vergangenen Jahre mit einer Vielzahl von Programmen sozial abzufedern.

So sitzen beide in der Regierung und machen sich gegenseitig das Leben schwer. Daß das ambitionierte Ziel, das horrende Haushaltsloch noch im laufenden Jahr von 6,9 auf 5,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu reduzieren, sich tatsächlich verwirklichen läßt, glaubt außer der Regierung längst niemand mehr. Und mit einer staatlichen Schuldenlast von inzwischen über 100 Prozent des Sozialprodukts ist Belgien im Verhältnis zu seiner Wirtschaftsleistung der höchstverschuldete Staat der EG. Angesichts des finanziellen Desasters fordern belgische Regierungsmitglieder, allen voran notgedrungen Finanzminister Maystadt, die Hürden für die Europäische Währungsunion herunterzusetzen. Bisher sehen die Maastrichter Verträge vor, daß die jährliche Neuverschuldung drei Prozent und der Schuldenberg 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten darf. Belgien müßte also in die Röhre schauen.

Dabei war das Kabinett des christdemokratischen Regierungschefs Jean-Luc Dehaene vor über einem Jahr mit zwei Grundsätzen angetreten: das Land vor dem Staatsbankrott zu bewahren und die Staatsreform zu vollenden. Von ersterem ist man meilenweit entfernt, das zweite könnte sogar dem fragilen Staatsgebilde den Garaus machen. Die Umwandlung des Zentralstaats zu einem föderalen Bundesstaat haben die Abgeordneten im Frühjahr bereits mit einem weitreichenden Gesetzespaket abgesegnet. „Václav Havel, öffne ihnen die Augen!“ mahnen überzeugte Belgier und befürchten, daß damit die politische Unabhängigkeit der beiden Landesteile Flandern und Wallonien ein Stück nähergerückt sein könnte. Sie wissen nur zu gut, daß die Liebe zu Pommes und Bier noch lange keine nationale Einheit schafft und das alte Sprichwort, nach dem sich Gegensätze anziehen sollen, nicht für flämische und wallonische Separatisten gilt.

Was die beiden Landesteile immer mehr auseinandertreibt, ist nicht einmal so sehr der jahrelang schwelende Sprachenstreit. Minderwertigkeitsgefühle und Überheblichkeiten, die in dem erst 1831 entstandenen Königreich wie Zentrifugalkräfte wirken, haben ökonomische Ursachen. Waren es im Mittelalter die flämischen Händler, die dem Landstrich zu wirtschaftlicher und kultureller Blüte verhalfen, wendete sich mit der Industrialisierung das Blatt. Mit der Kohle aus den wallonischen Bergwerken erwuchs dort eine mächtige Stahl- und Eisenindustrie. Bis in die 50er Jahre hinein waren die Wallonen den Flamen wirtschaftlich überlegen. Doch dann machten die Zechen dicht, und die feurigen Schlackenströme in den Schmelzöfen versiegten langsam. Gleichzeitig blieben die Geldströme aus der Kongo-Kolonie aus, von der vor allem die frankophone Oberschicht profitiert hatte.

Heute zählt Wallonien doppelt so viele Arbeitslose wie Flandern. Seit den Erdölkrisen in den 70er Jahren, als der wirtschaftliche Niedergang seinen Höhepunkt erreichte, wurden Hunderttausende, die ihre Arbeit verloren hatten, mit staatlichen Programmen für Frühpensionierung, Karriereunterbrechung, Teilzeitarbeit oder Lohnsubventionen weiteralimentiert. Den Staat kostet das eine schöne Stange Geld: 1991 verschlangen die Maßnahmen 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – das ist gut doppelt soviel wie im EG-Schnitt. Die vornehmlich passiven Einkommenshilfen, monierte nicht nur die OECD, hätten den Teufelskreis weiter Arbeitsplatzverluste zusätzlich angeheizt.

Für die Flamen ist es jetzt genug. Sie wollen Wallonien nicht länger mit ihrem Wohlstand aushalten. Flandern, so behaupten einige Separatisten, bezahle mehr für den südlichen Landesteil als die Westdeutschen für den Osten. Zwar gelten auch die in Flandern dominierenden Branchen, die Metall-, Chemie- und Textilindustrie, nicht gerade als die zukunftsträchtigsten Industriezweige. Doch das Rückgrat der flämischen Wirtschaft sind die zahlreichen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die nicht weniger als die Hälfte der Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft stellen und deren Chancen in der Spezialisierung liegen. 60 Prozent des flämischen Bruttoinlandsprodukts aber werden im Handel und im Dienstleistungssektor erwirtschaftet – keine schlechte ökonomische Basis für einen eigenen Staat, wie die flämischen Nationalisten glauben.

Doch ob der flämische Territorialismus einst vom Erfolg gekrönt sein wird, ist mehr als fraglich. Ende April zogen rund 30.000 Belgier gegen den Separatismus auf beiden Seiten durch Brüssels Straßen. Mitgenommen hatten sie Bilder Baudouins. Und überall tönte es: „Es lebe der König!“

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