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Sexueller Mißbrauch auf Krankenschein

Koblenzer Landgericht kritisierte mangelnden Schutz von Frauen vor ärztlichem Mißbrauch / Berufungsverhandlung gegen Psychiater endete mit Haftstrafe  ■ Aus Koblenz Heide Platen

Doktor Rainer E. doziert mit dem Gutachter über Medikamentengaben, kanzelt die Staatsanwältin ab und belehrt seine Richter. Doktor Rainer E. tritt äußerlich im Gerichtssaal so dickfellig auf, wie das die vielen kleinen, bunten Elefanten auf seiner Krawatte wohl signalisieren sollen. Der Mann ist Arzt, Neurologe, Psychotherapeut und Angeklagter. Und das letztere nicht zum erstem Mal. In diese Rolle hat er sich noch immer nicht hineingefunden. Ein Gutachter sagte im Berufungsverfahren vor dem Landgericht in Koblenz über ihn aus, E. sei „leider nicht Untersuchungsobjekt“ seiner Expertise. Das sind statt dessen die Vertreterinnen der Nebenklage und die Zeuginnen in zwei parallel laufenden Verfahren, dem in Koblenz und einem weiteren vor dem Amtsgericht im linksrheinischen Sankt Goar. Andere Verfahren sind vorerst ausgesetzt.

Die Anklägerin, Staatsanwältin Maria Thunert, wirft ihm in erster Instanz in Sankt Goar vor, die psychisch kranke Helma K. in 140 Einzelfällen von 1980 bis Ende 1991 durch „Geschlechtsverkehr, Betasten und Oralverkehr“ sexuell schwer mißhandelt zu haben. Er habe die Situation der Frau „bewußt ausgenutzt“ und sich außerdem bei der Krankenkasse auch noch dreimal Vermögensvorteile erschlichen. In zwei Fällen davon, so Thunert, „war der Geschlechtsverkehr offensichtlich die einzige Behandlung“.

In dem in Koblenz angefochtenen Urteil war E. zu 18 Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe von 40.000 Mark verurteilt worden. Sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft legten Berufung ein. Presseberichte hatten eine ganze Anzahl ehemaliger Patientinnen ermutigt, ebenfalls zur Polizei zu gehen. Neue Ermittlungsverfahren schlossen sich an. In Sankt Goar fanden sich, neben ungenannt bleiben wollenden Zeuginnen, erst eine, dann zwei neue Nebenklägerinnen. Der in Koblenz zum Gutachter bestellte Hamburger Psychiatrieprofessor Horn stellte dazu fest: „Das hat in diesem Ort jeder gewußt.“

Daß in den Gerichtsverfahren auch die Psychiatrie als Wissenschaft auf dem Prüfstand steht, bestreiten Horn und sein Kollege, Professor Manfred Bauer, nicht. Sie versuchen sich in bitterem Sarkasmus. Horn: „Es gibt auch den Richter, der seine Frau umbringt.“ Oder in resignativer Befürchtung: Das „erhebliche Dunkelfeld“, sagt Horn, sei „zwar nicht Alltag. Aber so selten ist das nicht.“ Er wisse von zwei weiteren Fällen.

Diesen dunklen Ahnungen wird das Gesetz nicht gerecht. Und das macht die Verfahren streckenweise unerträglich, denn zur Urteilsfindung bedarf es der gerichtlichen Klärung der Frage, ob die mißbrauchten Patientinnen „widerstandsfähig“ nach Paragraph 179 des Strafgesetzbuches waren. Der Antwort auf die Frage nach der „anderen schweren seelischen Abartigkeit“ gibt Horn eine bissige Bemerkung bei: „Man kann nicht unter juristischen Begriffen leiden.“ Frau aber kann es, zumindest diejenigen, die im Gerichtssaal sitzen. Denn, so auch die Gutachter, die Patientinnen des Doktor E. hätten sich, rein theoretisch, tatsächlich gegen seine Übergriffe wehren können. Keine von ihnen war so schwer geschädigt, wie es der Paragraph, der zum Schutze von Hilflosen, Ohnmächtigen, Schlafenden, an geistigen Behinderungen Leidenden gedacht ist, verlangt.

Eine junge Frau schildert im Zeugenstand, wie es ihr bei den Untersuchungsmethoden à la E. ergangen ist. Sie sei nach telefonischer Anfrage als junges Mädchen nach der Trennung ihrer Eltern zu ihm gekommen, weil sie Selbstmordgedanken hatte und „alles über mir zusammengebrochen war“: „Ich dachte, vielleicht kann er mir helfen.“ Sie habe sich nach einer allgemeinen Untersuchung ausziehen müssen. Vorher habe ihr E. eine Kalziumspritze gegeben und ihr erklärt, diese würde in den Körperregionen, mit denen sie Probleme habe, ein Wärmegefühl auslösen. Auf einer Liege habe er sie dann befingert bis in den Schambereich hinein. Sie habe nicht mehr ein noch aus gewußt, nur gehofft, daß er aufhöre. Außerdem sei es ihr „komisch“ vorgekommen, daß der Arzt keinen gynäkologischen Stuhl und, „schon wegen Aids“, keine Handschuhe benutzt habe. Das alles sei ihr hochnotpeinlich gewesen. Als E. sie gefragt habe, ob sie das Gefingere „innen“ oder „außen“ angenehmer finde, habe sie nur schnell gesagt: „Außen.“ E. habe ihr dann später zu einer wöchentlichen Therapie bei ihm geraten, aber sie sei nicht mehr hingegangen: „Ich hatte das Gefühl, ich werde abhängig, wenn ich da wieder hingehe. Aber ich wollte doch selbständig werden.“ Und: „Was der gesagt hat, das hat mir Angst gemacht.“ Sie habe noch heute Alpträume und sehe dabei das Gesicht des Arztes.

Gutachter Bauer beschreibt die Situation der jungen Frau, die er durchaus für „widerstandsfähig“ hält. Sie sei „wie gelähmt“ gewesen und habe die „Untersuchungssituation nicht umdeuten können“. Für die Widerstandsfähigkeit sei es nötig, „den Gegner als solchen erkennen zu können“. Als Arzt habe der aber vorab ihr „qua Amt entgegengebrachtes Vertrauen“ gehabt. Sie habe sich ja dann auch gewehrt. Andere Patientinnen mit schwereren Depressionen seien da noch schlechter dran gewesen. Depressionen, so Bauer, „gehen fast immer mit Hemmungen einher“: „Das kann so weit gehen, daß man mit ihnen alles machen kann, weil sie sich nicht zur Wehr setzen“, sich ihrer Bedürfnisse oft nicht einmal bewußt sind. Deshalb sei für ihn jenseits „des engen Rahmens“ der Tatbestand des Paragraphen 179 erfüllt.

Auch Horn geht von „erheblich verminderter Widerstandsfähigkeit“ der Frauen aus, die durch das Arzt-Patienten-Verhältnis entstehen, die das Gesetz aber nicht berücksichtige. Vor „Übergangslosigkeit“ von Untersuchung zum Mißbrauch. Er wehre sich gegen eine „Ja-Nein-Entscheidung“. E. habe „Schreck und Schock“ ausgenutzt und die teils unter schweren Medikamentendosen stehenden Patientinnen „überrumpelt“. Die umsichtig und kühl agierende Vorsitzende Richterin Angelika Blettner verweist den Gutachter selbst auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes vom März 1989, der gegen einen Arzt entschieden hatte, daß auch eine „vorübergehende Unfähigkeit“ wie „Überraschung, Schreck, Schock“ zur Verurteilung ausreiche.

Auffällig ist, daß alle die Frauen, die sich zur Anzeige oder Aussage entschlossen haben, psychisch labil in den unterschiedlichsten Formen sind, meist langfristig unter verschiedensten körperlichen und seelischen Krankheiten litten, schwach waren, familiäre Probleme zuhauf hatten. Frauen, die sich wehrten, blieben danach ungeschoren.

Am erschütterndsten mutet die Lebensgeschichte einer der zwei Nebenklägerinnen in Sankt Goar an. Helma K. quält sich, umsichtig begleitet von ihrer Nebenklagevertreterin Claudia Burgsmüller, sichtlich durch das Verfahren. Immer wieder kränkelnd, kam sie 1981 in die Praxis, kannte E. schon aus seiner Arztzeit im Krankenhaus, hatte Vertrauen zu ihm. Sie war bei ihm auch nach den ersten Ermittlungsverfahren, bis zum Jahr 1991, in Behandlung. Und immer wieder habe er sie, so die Anklage, mißbraucht. E. bestreitet, daß es nach einer Aussprache mit dem Ehemann 1985 noch einmalzum Geschlechtsverkehr gekommen sei. Außerdem sei die Initiative dazu nicht von ihm, sondern „mehr von ihr“ ausgegangen. Stereotyp machte er sich dabei die Argumentation des von der Nebenklage erfolglos abgelehnten Gutachters Lortz zu eigen, Helma K. habe sich für die Besuch bei ihm „in lustvoller Erwartungsspannung ... schön gemacht“ und „ausgiebig parfümiert“. Die Staatsanwältin wundert sich über Einträge in den Krankenblättern. Da sei sehr wohl vermerkt, daß Frau K. „mit einer neuen Kurzhaarfrisur erschienen“ sei, nicht aber der Befund und die Behandlung.

Es schleicht sich der Verdacht ein, daß E. den Geschlechtsverkehr mit seinen Patientinnen als therapeutische Gespräche abrechnete. Daß er dabei wieder doziert, ist nicht zu seinem eigenen Besten. Einen staatsanwaltlichen Hinweis auf Sigmund Freud kontert er: „Das ist, als wenn ich Sie frage, ob Sie schon mal ein juristisches Buch gelesen haben.“ Seine „Beziehung“ zu Helma K. beschreibt er gleichzeitig überheblich und hölzern: „Beziehungen gibt es auch hier.“ Diese sei eine „von beiden eher sexuell getönte“ gewesen.

Daß der Doktor E., der möglicherweise gar nicht merkt, daß er wahrhaft alles tut, um unsympathisch zu wirken, hinter seiner harten Panzerung selber ein schwer gestörter Mensch ist, ist ihm nur ganz selten anzumerken. Dann „stricken“ seine gegeneinandergepreßten Fingerspitzen, dann zerren und zurren seine Finger verirrt durch seinen gepflegten Vollbart. Oder die hellen blauen Augen, von denen Patientinnen sagen, er habe sie damit immer so „unheimlich angestarrt“, verschleiern sich, als ob der Angeklagte in seinem eigenen Inneren wie in einem leeren Raum versinkt.

Das Koblenzer Landgericht verurteilte E. am Mittwoch wiederum zu einer Haftstrafe von einem Jahr und drei Monaten, diesmal ohne Bewährung, einer Geldstrafe von 30.000 Mark und einem dreijährigen Berufsverbot. Richterin Angelika Blettner interpretierte die Unzulänglichkeit des Paragraphen 179 dahin, daß eine „geistige und seelische Beeinträchtigung“ gegeben gewesen sei, weil die Frauen schon vor ihrem Besuch bei E. krank waren. Er habe ihre „Situation ausgenutzt“ und sie dann durch „Schreck oder Schock überrumpelt“. Blettner forderte die Öffentlichkeit auf, für eine schon bestehende Gesetzesinitiative, die diese „Gesetzeslücke“ schließe, „aktiv zu werden“. Das Berufsverbot begründete sie vor allem mit dem Mißbrauch einer 16jährigen. Dies habe gezeigt, daß E.s „egoistisches Verhalten keine Grenzen kennt“. Das Urteil im zweiten Verfahren gegen E. in Sankt Goar wird im Juli erwartet.

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