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Eine Nacht freiwillig auf Platte

Heute abend beginnt in der Berliner City die zentrale Veranstaltung zur „Nacht der Wohnungslosen“ mit einem „Sleep Out“ zu Füßen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche  ■ Aus Berlin Corinna Raupach

Seit einer Woche schläft Claus Isensee wieder auf der Straße. Statt in seinem Bett im Männerwohnheim im Berliner Bezirk Reinickendorf verbringt er die Nacht wie auch den Tag auf dem Breitscheidplatz an der Gedächtniskirche. Diesmal allerdings freiwillig, im Unterschied zu den Jahren davor. Nachdem Claus Isensee seine Wohnung in Salzgitter verlor, wurde er als Nichtseßhafter von Stadt zu Stadt geschickt und mußte sich mit Gelegenheitsarbeiten auf dem Rummel durchschlagen.

Auf dem Breitscheidplatz hat die Betroffeneninitiative innerhalb der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) unter dem Motto „Haste mal 'ne Mark“ einen Informationsstand aufgebaut. „Bis Samstag werden wir hier Geld und Unterschriften sammeln, um ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen“, sagt Isensee. „Das hat es noch nie gegeben, daß sich Obdachlose bundesweit zusammenschließen.“ Mit den Spenden soll ein bundesweiter Verein gegründet werden.

Etwa 1.500 Menschen haben sich bereits mit bunten Filzschreibern auf der Papierrolle verewigt. „Das kann doch jedem passieren“, sagt die 12jährige Nina. Ein Spandauer Pärchen bestätigt das: „Wir haben ein Jahr lang nach einer Wohnung gesucht, und dann ging es nur mit Bestechung.“ Ein älterer Herr kennt das Gefühl, auf der Straße zu stehen. „Ich war selbständig und bin pleite gegangen, verlor meine Wohnung, die Ehe ging in die Brüche, und ich mußte ganz von vorn anfangen“, erzählt er. Jetzt sei er wieder als Angestellter tätig und habe auch eine Wohnung. „Wie mit Arbeits- und Wohnungslosen umgegangen wird, ist eine große Schmutzigkeit.“

Heute abend beginnt auf dem Breitscheidplatz mitten in der Westberliner City die für Deutschland zentrale Veranstaltung zur „Nacht der Wohnungslosen“. Von der BAGW initiiert und von Wohlfahrtsverbänden, dem DGB, dem Deutschen Mieterbund und anderen Initiativen getragen, soll die Nacht der Wohnungslosen ein Zeichen gegen Wohnungsnot und für eine radikale Wende in der Wohnungspolitik setzen. Alle Berlinerinnen und Berliner sind aufgerufen, freiwillig eine Nacht im Freien zu verbringen, so wie es — je nach Schätzung — zwischen 8.000 und 40.000 allein in Berlin jede Nacht unfreiwillig tun. „Wir wollen bewußt das Thema Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit unter freiem Himmel und nicht als Expertengespräch unter die Leute bringen“, sagt Werena Rosenke von der BAGW.

Die Idee des Sleep Out stammt aus England. In diesem Jahr wird sie zum ersten Mal europaweit verwirklicht. In England und Irland sowie in etwa 110 weiteren deutschen Städten wie Köln, Hamburg, München und Gelsenkirchen wird es heute Sleep Outs geben. In den Beneluxstaaten, Spanien und Italien ist der 17. Oktober vorgesehen.

Auf dem Breitscheidplatz beginnt um 18 Uhr ein buntes Kulturprogramm. Die lateinamerikanische Band „La Serenata“, die „Friends of Charlotta“ und das Samba-Orchester der UFA-Fabrik sorgen für musikalische Unterhaltung. Im Foyer der Gedächtniskirche werden Filme und Dias zum Thema Obdachlosigkeit gezeigt. Verschiedene Theater- und Kabarett-Beiträge, unter anderem von Hans Scheibner und Christiane Reiff, sind geplant. Zwischendurch sollen Politiker und Prominente interviewt werden. Die Betroffeneninitiative will ein Zimmer in einer Läusepension nachbauen. „Die Bürger sollen sich einmal vorstellen können, wie es ist, mit sieben Männern im Zimmer zu schlafen, die fast alle Alkoholiker oder Fixer sind“, sagt Isensee. Gleichzeitig wollen sie so gegen die überhöhten Tagessätze in den Pensionen von bis zu 150 Mark protestieren.

Ein Diskussionsforum am nächsten Morgen wird die Möglichkeit bieten, mit Bundespolitikern, Vertretern der unterstützenden Verbände, Praktikern und Betroffenen über Wohnungs- und Wohnungslosenpolitik zu diskutieren.

In Berlin wird bei gutem Wetter mit einigen tausend TeilnehmerInnen gerechnet, übernachten werden vielleicht 200. Wie viele Betroffene selbst kommen werden, ist noch unklar. In den Wärmestuben ist die Stimmung gespalten. „Ich halte gar nichts von solchen Veranstaltungen“, sagt ein Obdachloser, der im „Warmen Otto“ Kaffee kocht und Teller spült. „Da werden immer nur große Worte geschwungen, aber passieren tut wieder nichts.“ Er plädiert für Hausbesetzungen. Leerstehende Häuser gebe es schließlich genug, in denen man zum Teil bis zu 20 Obdachlose unterbringen könnte.

Ein anderer will unbedingt dabeisein, um den Politikern die Lage der Wohnungslosen vor Augen zu führen. Er hofft sogar, daß die Aktion dazu führen werde, daß in Zukunft die Mietpreise wieder sinken und mehr Pensionen eingerichtet werden. Eine Kollegin dagegen bleibt skeptisch. „Die wollen doch gar nichts unternehmen, niemand.“

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