Kurden nehmen Europa in die Pflicht

Gründe für Verzweiflungstaten kurdischer Immigranten in Europa gibt es genug: Jeder hat Angehörige im von der türkischen Armee mit Krieg überzogenen Kurdistan, wo ganze Dörfer zerstört und die Einwohner deportiert werden.

Die Überfälle in Deutschland, Frankreich und der Schweiz kamen beinahe gleichzeitig: Gestern vormittag nahmen Männer, die sich als Kurden ausgaben, das Personal der türkischen Konsulate in München, Marseille und Bern als Geiseln. Zur selben Zeit überfielen Kurden in zahlreichen deutschen Großstädten türkische Geschäfte und Banken und zerstörten Glas und Mobiliar. Verbindend war nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch die Forderung bei den militanten Aktionen: Die Türkei solle ihren schmutzigen Krieg in Kurdistan einstellen.

Die größte organisierte Kraft der türkischen KurdInnen, die „Arbeiterpartei Kurdistans“ PKK, hüllte sich am Nachmittag zwar in Schweigen. Doch ihre inoffiziellen Vertreter in Europa, die „Kurdistan-Komitees“, bestritten, daß es eine gemeinsame Regieführung für die militanten Aktionen gegeben habe. Nach Mehmet Ciya, Sprecher des zentralen „Kurdistan-Komitees“ in Brüssel, handelte es sich um „Spontanaktionen von Kurden“.

Gründe für Verzweiflungstaten kurdischer ImmigrantInnen in Europa gäbe es genug. Denn gerade in den vergangenen Wochen hat die türkische Armee ihre Operationen in Kurdistan vervielfacht. Rund hundert Menschen, darunter zahlreiche Zivilisten, kamen dabei ums Leben, mehrere Dutzend Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, aus anderen wurde die Bevölkerung deportiert. Der neuen Eskalation des Anti-Guerilla-Kampfes vorausgegangen war das Ende des zweieinhalbmonatigen Waffenstillstandes zwischen der PKK und der türkischen Armee, dem ersten derartigen Versuch, seit Beginn der bewaffneten Kämpfe.

Nachdem ein PKK-Kommando Ende Mai dieses Jahres einen Armee-Transport überfallen und zahlreiche unbewaffnete Rekruten und Reisende ermordet hatte, hatte PKK-Chef Abdullah Öcalan, genannt APO, den von ihm selbst angebotenen Waffenstillstand aufgekündigt.

Weit über eine halbe Million KurdInnen aus der Türkei leben in Europa – die meisten von ihnen in Deutschland. JedeR von ihnen hat Angehörige in den umkämpften Gebieten, und jedeR ist somit von der neuerlichen Zuspitzung bei den Kämpfen betroffen. „Das Morden im türkischen Kurdistan findet kein Ende. Aber niemand spricht darüber. Das Fernsehen ignoriert die türkischen Brutalitäten, und die Welt schweigt“, sagt D. Karan vom „Kurdischen Kulturverein“ in Berlin.

Von den rund 400.000 in der Bundesrepublik lebenden türkischen KurdInnen sind nach Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden nur rund 5.000 politisch organisiert. Doch wenn die PKK zu Protestaktionen in Europa aufruft, kann sie großer Gefolgschaft gewiß sein. Ihre Hungerstreiks vor dem Europaparlament und nationalen Institutionen – immer verbunden mit der Forderung nach Sanktionen gegen den Nato-Partner Türkei – waren langanhaltend und hatten hohe TeilnehmerInnenzahlen. Im November vergangenen Jahres organisierte die PKK die Wahl eines „Kurdischen Nationalparlamentes“ in Europa. Zigtausende von Menschen beteiligten sich an dem Urnengang, der von der türkischen Regierung als „illegale Veranstaltung“ gekennzeichnet, von den europäischen Ländern jedoch geduldet wurde. Am 29. Mai dieses Jahres rief die PKK zu einem „Friedensmarsch“ in Bonn auf. Rund 70.000 KurdInnen aus ganz Europa kamen (das „Kurdistan-Komitee“ spricht von 100.000 TeilnehmerInnen) und demonstrierten für die drei Hauptforderungen der Organisation: Schluß mit dem Spezialkrieg in Türkisch-Kurdistan, gesetzliche Anerkennung der kurdischen Identität und Recht auf legale politische Betätigung aller kurdischen Organisationen.

Daneben wählte die PKK in Europa immer auch militante Aktionsformen. Die Palette reichte von Besetzungen von Partei- und Gewerkschaftsbüros über Überfälle auf Mitarbeiter türkischer Konsulate, kleineren Anschlägen auf Geschäfte und Banken bis hin zu dem Attentat auf das Berliner Büro der türkischen Zeitung Hürriyet im Jahr 1988, bei dem ein Mitarbeiter durch einen Kopfschuß schwer verletzt wurde. Nach Angaben der deutschen Polizei sollen bewaffnete Anhänger der PKK „Spendengelder“ für die Organisation eintreiben. Gegen abtrünnige Mitglieder ihrer Organisation ging die PKK auch in Europa mit Waffengewalt vor.

In den vergangenen Tagen richtete sich der Zorn PKK-naher Gruppen in Deutschland vor allem gegen die Wochenzeitung Focus. Die hatte vor zwei Wochen ein Interview mit PKK-Chef Öcalan veröffentlicht, dessen Inhalt angeblich verfälscht ist. In dem Interview hatte „APO“ die „Aktionen von ausländerfeindlichen Deutschen gegen Türken“ begrüßt. Am Dienstag stürmte eine Gruppe aufgebrachter Kurden die Münchner Redaktion der Zeitschrift und richtete einen mehrere tausend Mark schweren Sachschaden an.

Kurdische Geiselnahmen, wie die in den türkischen Konsulaten in Frankreich, der Schweiz und Deutschland, waren bis gestern nicht vorgekommen. Mehrere kurdische Verbände in Europa distanzierten sich gestern von der Gewalt. Gleichzeitig gab es Verständnis. „Vielleicht“, so hoffte ein Berliner Kurde, „wacht die Weltöffentlichkeit ja doch irgendwann auf und nimmt das türkische Morden in Kurdistan wahr.“ Dorothea Hahn