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Offenes Ohr für die Sorgen der Tauben

■ Seelsorge der evangelischen Kirche mit Schreibtelefon / „Eigene Gehörlosen-Subkultur“

„In unser Gesellschaft ist Kommunikation das A und O. Wer davon ausgeschlossen ist, hat es sehr schwer.“ Ronald Ilenborg ist Pastor der evangelischen Kirche in Bremen und betreut Menschen, die von Geräuschen, Stimmen und Musik ausgeschlossen sind. Um den Gehörlosen wenigstens eine eingeschränkte Tele- Kommunikation mit ihm zu ermöglichen, gibt es in Ilenborgs Büro ein Schreibtelefon. Wer ebenfalls eins hat, kann es über ein Zusatzgerät an die Telefonleitung anschließen und dem Pastor Telefongespräche schreiben.

„Die ideale Lösung für Gehörlose ist so ein Schreibtelefon allerdings nicht“, meint Ilenborg. Denn die deutsche Schriftsprache ist für die Menschen, die nicht hören können, eine „Fremdsprache, die sie mühsam lernen müssen.“ Die Gebärdensprache, die sie beherrschen, hat eine andere Grammatik und baut statt auf einzelnen Buchstaben auf ganzen Begriffen auf. „Daher ist Geschriebenes von Gehörlosen oft schwer zu lesen. Man braucht eine ganze Weile, bis man das versteht.“

Das ideale Fernkommunikationsmittel für Gehörlose ist das Bildtelefon, mit dem Gebärden übertragen werden können. Die Telekom hat in einem Pilotprojekt einige der Geräte an Gehörlosenverbände verteilt, um sie zu testen und eventuell zu verbessern. Ein solches Bildtelefon soll nun auch der Bremer Verband bekommen.

500 Gehörlose in Bremen und Umgebung betreut Pastor Ilenborg. Besondere Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen, haben Menschen, die vor dem Spracherwerb ihr Gehör verloren haben. „Viele können zwar Sprache von den Lippen ablesen, aber nur ein Drittel des Gesprochenen ist deutlich. Der Rest ist Gerate mit vielen Mißverständnissen. Gehörlose Kinder können „Mama“ nicht von „Papa“ unterscheiden, weil beides auf den Lippen gleich aussieht.“

„Das Wort „taub“ hören Gehörlose nicht gern, weil es die gleiche Wurzel wie „dumm“ hat“, sagt Ilenborg. „Mit wem wir nicht kommunizieren können, den halten wir für debil.“ Zwar sei die Verständigung via Gebärdensprache sehr alt (“Schon Plato berichtet darüber“), aber Gehörlose haben unter der Ausgrenzung durch die hörende Mehrheit „seit Ewigkeiten gelitten“. Grausamer Höhepunkt war das Dritte Reich, als durch das „Gesetz zur Verhinderung von Erbkrankheiten“ viele Gehörlose zwangssterilisiert wurden. Noch heute, so Ilenborg, gibt es daher in Deutschland wesentlich weniger von Geburt an Gehörlose als in anderen Ländern.

Der Ausschluß von den Berufen, die Kommunikation erfordern und ihr großes handwerkliches Geschick führen dazu, daß Gehörlose oft als Kunsthandwerker, Zahntechniker oder Zeichner arbeiten. „Es gibt eine richtige Gehörlosen-Subkultur“, meint Pastor Ilenborg, „denn im Verein unter sich sind die Gehörlosen nicht behindert.“ Bernhard Pötter

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