: Die Linke vergißt nie!
Linkshänder sind eine unterdrückte Minderheit im „Rechtsstaat“. Links gilt als Synonym für schlecht, schmutzig, schwach und schweinisch. Über das Überleben unter Menschen, die das Herz „auf dem rechten Fleck“ haben, schreibt ■ Philippe André
Auf den ersten Blick war der Anlaß meiner Entrüstung ein scheinbar nichtiger gewesen. Ich hatte – wie so oft schon – den Korken einer Flasche Spitzenburgunder abgebrochen. In Kennerkreisen allerdings ein ärgerlicher Zwischenfall. Die Flasche darf weder ruckartig bewegt noch – um Himmelswillen – geschüttelt werden. Der edle Stoff ist sensibel wie Nitroglycerin. Das abrupt einsetzende eisige Schweigen unter den anwesenden Gourmets währte denn auch eine entsprechende Ewigkeit. Behutsam wurde mir sodann die Flasche aus den vor Schreck verkrampften Fingern gezerrt. Jemand klopfte mir väterlich auf die Schultern und rülpste: „Linkshänder wa, die raffen's nie!“
Eine Flut unschöner Erinnerungen brach daraufhin über mich herein. Der alte Zorn kroch in mir hoch, all der Ungerechtigkeiten wegen, die ich erleiden mußte, nur weil ich Linkshänder bin. Jetzt wollte ich es wissen. Auf der Suche nach weiterem Material, das mir das ganze Ausmaß des Leids und der steten Gefahr offenlegen sollte, denen wir Linkshänder unser Leben lang ausgesetzt sind, stieß ich auf wahrlich „Linkes“: Die meisten Arbeitsunfälle an Maschinen werden von Linkshändern verursacht. Doppelt so viele Linkshänder verunglücken in diesem „Rechtsstaat“ mit dem Auto. Der kanadische Psychologe Stanley Coren will gar herausgefunden haben, daß wir Linken häufiger an Magenleiden oder Allergien erkranken und sogar früher versterben als die Rechten.
Kein Wunder: Jeder Schalter, jedes Türschloß, jede Scheibe oder Schraube ist für Rechtshänder geschaffen. Linkshänder hassen Reißverschlüsse, Münzautomaten, Knöpfe, Haushaltsgeräte und Elektroartikel aller Art. Abgrundtief verachten sie Heißwasserhähne. Ihre Beziehung zu Kellnern oder Sommeliers ist in der Regel getrübt, da diese sich Gästen grundsätzlich von rechts nähern. Oft halten sie sich selbst schon für doof, weil sie Türklinken nicht gleich auf Anhieb finden und dauernd Soßen verschütten.
Meist ist Rechtshändern nur schwer verständlich zu machen, was es heißt, als Linkshänder in einer Welt von Menschen zu leben, die das Herz „auf dem rechten Fleck“ haben. Ohnehin betrachten die meisten von ihnen die offiziell zwei bis fünf Prozent Linkshänder in Deutschland zwar nicht mehr als charakter-, aber doch nach wie vor als organschwache Minderheit.
Das war nicht immer so: Untersuchungen an Werkzeugen unserer Urahnen ergaben, daß sie zu 57 Prozent (Nordkenia) beziehungsweise 61 Prozent (Spanien) von Rechtshändern hergestellt worden waren. Ein fast ausgeglichenes Verhältnis also. Allgemein wird heute angenommen, die Erfindung der Waffen habe die erste Arbeitsteilung zwischen den Händen erforderlich gemacht. Eine Hand griff an, die andere schützte das Herz. Etwa ab der Bronzezeit, so die Forschung übereinstimmend, seien die Rechtshänder deutlich in der Überzahl.
Die ersten, die zur Hatz auf die Linkshänder bliesen, waren die Kirchenmänner. Denn die „Böcke zur Linken holt der Teufel“ heißt es halt in Mattäus 25, 33. Rechts galt und gilt als Sinnbild des Reinen, des ewigen Lebens, links als das Irdische, Schlechte. Gut und Böse, so eine kulturhistorische These, wollte sich der Mensch schon immer auch konkret vorstellen können. Dem Wunsch sei die Kirche lediglich prompt nachgekommen.
Die moralischen Werturteile über links und rechts sind offenbar weltweit und in nahezu allen Kulturkreisen und Sprachen mittlerweile ebenso eindeutig. Links gilt als Synonym für schlecht, schmutzig, schwach und schweinisch. Deshalb auch wird es immer wieder mit Frauen assoziiert.
Mit der Entwicklung immer komplizierterer, für die Bedienung mit der rechten Hand konzipierter Maschinen, und der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, verschärfte sich die Lebenslage Sinistraler noch einmal dramatisch. Generation für Generation wurde fast komplett „umgeschult“, gezwungen, mit der rechten Hand zu schreiben. In den USA, wo die Schulen meist unter kirchlicher Fuchtel standen, begann ein regelrechter „WAR ON LEFTIS“, der in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts gar in eine Meldepflicht für Linkshänder gipfelte.
Auch viele von uns Jüngeren erinnern sich durchaus noch an die garstigen „Tatzen“ auf die Fingerkuppen der linken Hand, an das Umwickeln mit Tüchern oder gar ihr Eingipsen, wenn mal wieder das böse Händchen nach der Feder gegriffen hatte. Klar eigentlich: Hatte sich nicht auch der große Sigmund Freud über uns mokiert, als er das Auftauchen einer linken Hand im Traume als „Symbol für Homosexualität, Inzest oder Perversion“ erklärte?
Dabei ist Linkshändigkeit eine gewöhnliche menschliche Veranlagung wie Rothaarigkeit, Homosexualität oder außerordentliche Intelligenz. Letztere tritt unter Linksseitigen übrigends besonders häufig auf. Das erklärt auch, daß – bis auf wenige Ausnahmen – nahezu alle echten Genies in der Geschichte der Menschheit Linkshänder waren oder es sind. Das Universalgenie Leonardo da Vinci etwa, Beethoven, Mozart und Chaplin, Einstein, McEnroe, Cäsar, Napoleon und Alexander der Große gehören dazu. Unter den Malern noch Michelangelo und Rubens, aber auch Picasso, Dürer oder Toulouse- Lautrec. Und das war nur das Stammaufgebot.
Natürlich war Jimi Hendrix Mitglied in unserem Verein. Das Gegenteil wäre auch so unvorstellbar wie ein rechtshändig geigender Paganini oder ein rechtsfüßig herumstolpernder Pelé. Auch Maradona hielt das Röhrchen mit der Linken an die Nase, Marilyn Monroe vergab nur linke Kußhändchen und Jack the Ripper – ein schwarzes Schaf im ehrenwerten Verein – soll nur mit links geschlitzt haben.
Noch immer ist umstritten, wie Linkshändigkeit entsteht. Zwar gibt es ein Rechtshänder-Gen, so die Forscher, keines jedoch für Linkshändigkeit. Fehlt das Rechtshänder-Gen, entscheidet für einen Teil der Fachwelt purer Zufall über die künftige Seitigkeit des Menschen, ein anderer Teil sieht als Ursache einen Überschuß des männlichen Sexualhormons Testosteron oder auch anderer, bislang noch nicht entdeckter Stoffe im Mutterleib, die die rechte Gehirnhälfte schneller, die linke hingegen langsamer wachsen lassen. In diesem Falle übernehme dann die rechte Hirnhälfte die Dominanz. Wie auch immer: bei zwei rechtshändigen Eltern liegt die Wahrscheinlichkeit eines linkshändigen Kindes jedenfalls noch bei mageren zwei Prozent. Sie steigt auf bereits 17, wenn nur ein Teil linksseitig ist und schnellt auf imponierende 46 Prozent, wenn es beide sind.
Die Händigkeit eines Menschen wird durch die überkreuz mit der aktiven Hand verbundene dominante Gehirnseite (Hemisphäre) bestimmt. Dies ist beim Rechtshänder also die linke, beim Linkshänder die rechte Seite. Dabei kann von einer vollständigen Dominanz einer Seite, von einer „besseren Hälfte des Gehirns“ allerdings keine Rede sein. Vielmehr kooperieren beide Hemisphären in hochkomplexer Weise, wobei bestimmte kortikale Gebiete dominieren – eben je nach Händigkeit des Menschen in der linken oder der rechten Seite gelegen. Den Hemisphären werden verschiedene Funktionen zugeordnet, die zu unterschiedlichen Denkweisen führen. Die linke Hemisphäre (rechte Seite) soll danach vor allem logische und analytische Denkprozesse beherrschen. Fakten, spezielle Kenntnisse, verbale Fähigkeiten seien dort abrufbar. Die rechte Gehirnhälfte (linke Seite) hingegen beherberge intuitive, ganzheitliche Vorstellungskraft, räumliches und perspektivisches Vorstellungsvermögen und sprachfreies Ausdrucksverständnis.
Linkshänder, die als Kinder gezwungen wurden, rechts zu schreiben, leiden doppelt. Während der Linkshänder steter Gefahr ausgesetzt ist, weil er gegen seine Natur zu leben gezwungen wird, hat beim „Umgeschulten“ darüber hinaus der „massivste unblutige Eingriff im Gehirn“ stattgefunden. Die Folgen dieser Mißhandlung sind oft verheerend: schon während der „Umschulung“ und danach kommt es zu verschiedenen Funktionsschwächen des Gehirns, ausgelöst durch Störungen der Übermittlungsprozesse im sogenannten Corpus Callosum (der Balken zwischen den Gehirnhälften, d. Red.) infolge einer überlasteten linken und einer gehemmten rechten Hemisphäre. Es kann zu Behinderungen der Gedächtnisleistungen kommen, Konzentrations- und Leistungsstörungen hervorrufen, zu Bettnässen führen und Sprachschwierigkeiten bis hin zum Stottern und legasthenische Schwächen auslösen. Meist stellen sich auf diese großen Verunsicherungen hin beim Kind rasch auch auffällige Verhaltensänderungen ein. Je nach Typ reicht die Palette der präneurotischen Auffälligkeiten vom Auftreten als Dauerclown oder Kasper in der Schule bis hin zur Entwicklung starker Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste mit den damit verbundenen sozialen Rückzugstendenzen oder Überkompensationen. Sie werden mit auf den weiteren Lebensweg genommen und wandeln sich im Laufe der Jahre in oft massive psychische Deformationen.
Ein böser Knacks im Grauzellenbereich also, der nach einer bereits 1986 durchgeführten statistischen Erhebung der Münchner Organisation für Neutrale Wissenschaften (ONRS)* jene Pseudorechtshänder später offenbar in Scharen in psychotherapeutische Praxen treibt. Zirka sechzig Prozent aller „Fälle“ stellen danach in früher Kindheit „umgeschulte“ Linkshänder dar.
Den am Gemüt Erkrankten ist jedoch zu diesem Zeitpunkt meist die eigentliche Ursache ihrer Defizite nicht mehr präsent. Und so geben sich viele von ihnen nach jahrelangen und teuren Sitzungen etwa mit einer gestörten Vater/ Mutter-Beziehung oder anderen Rennern aus der Psychokiste zufrieden.
Sicher, man ist den paar Linkshändern in Deutschland (gegenüber wieder 25 Prozent in USA, wo man sie schon länger in Ruhe läßt) entgegengekommen. Die Gefahr, daß weiteren Generationen mit der unsagbar dummen Rechtsdressur eine Macke fürs Leben verpaßt wird, scheint vorerst gebannt. Doch wurde bis vor ein paar Jahren noch systematisch „umgeschult“. Es dürfte also eine Menge Leute geben, die sich zwar unangenehm an jene Mißhandlungen in frühen Lebensjahren erinnern, ihnen jedoch bislang keinerlei Einfluß auf die Entwicklung ihres Gemüts zuordnen wollten.
Irgendwann in ihrem Leben machen „umgeschulte“ Linkshänder eine für sie ebenso faszinierende wie scheinbar unwichtige Entdeckung: sie beherrschen – ohne es je gelernt zu haben – Spiegelschrift. Louis Carroll etwa schrieb sie ebenso geläufig wie Leonardo da Vinci, zwei „Umgeschulte“. Der geniale Autor von Alices Abenteuern soll durch die an ihm vollzogene „Umschulung“ so schwer gestottert haben, daß er sein Vorhaben, Priester zu werden, aufgeben mußte.
Der Zwangsrechtshänder erfährt den Akt des spiegelbildlichen Schreibens übrigends oft als Befreiung von einer Not, die er sich nie richtig erklären konnte. Doch wird er überrascht und vielfach auch erleichtert darüber sein, um wieviel schöner und klarer seine Schrift nun ist, wenn er das (Pergament-) Papier umdreht. Die Linke konnte sich zwar nicht gegen die Mißhandlung wehren. Aber sie hat heimlich mitgelernt. Und sie vergißt nie.
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