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Schlaf' da mal zur Straße raus

■ betr.: "Wenn Berlin zur Provinz wird", "Zeitgeist-Schuldige", taz vom 1.7.93

betr.: „Wenn Berlin zur Provinz wird“, „Zeitgeist-Schuldige“,

taz vom 1.7.93

Von 100 Anrufen beim Bürgertelefon bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umweltschutz betreffen 80 Lärm: Fluglärm, Rasenmäherlärm, Baulärm, häuslichen Krach, Verkehrslärm, Kinderlärm, Kneipenlärm. Es ist schon etwas dran am Gerede von der zunehmenden „Verlärmung“. Und es ist zu einfach, auf den Umweltseiten deren Ursachen und Folgen zu beschreiben, die Einhaltung von Grenzwerten zu fordern oder gar ihre Verschärfung, im Lokalteil dann aber ziellos herumzumuffeln über die wachsende Provinzialisierung der Metropole. Als ob Kneipenlärm kein Problem wäre. Ach, wären nur die Gärten ein Problem – leider sind's manchmal schon die Kneipen selbst.

Beispiel Pfalzburger Straße zwischen Lietzenburger und Ludwigkirchplatz. Allabendlich und nächtlich die Parade der Autos derer, die hier parken wollen um sich in den umliegenden Lokalen zu ergehen. Aufheulende Motoren, stop and go, Hupen. Vor Mey's parken die schweren Schlitten – Papa hat's offenbar – in zweiter Spur, Stereoanlage ordentlich aufgedreht. Türenschlagen, lautes Hallo durch die offene Bartür. Gruppenbildung vor der Kneipe, Cocktailglas in der Hand, angeberisches Getue und ebenso laut. Schlaf' da mal zur Straße raus, wenn die Horde einer besonders widerwärtigen Abart der Sorte Yuppies sich selbst und ihre geile Dümmlichkeit zelebriert. Und das tun da nämlich viele Leute: Familien mit Kindern, Berufstätige, die morgens aus ihren Sozialwohnungen raus zur Maloche müssen.

Das ist auch ohne Stühle auf der Straße unerträglich. Es ist unerträglich, weil diese Typen unerträglich sind (und die Straße für den Durchgangsverkehr nicht gesperrt). Es gibt in der gleichen Ecke eine ganze Reihe anderer Lokale mit Stühlen auf dem Trottoir oder im Vorgarten mit minderen Problemen. Und auch da sitzen nicht nur die alten 68er, sondern auch andere, die irgendwann schon einmal das Wort Empathie oder Rücksicht gehört haben. Dolf Straub, Mitarbeiter

bei SenStadtUm und Anwohner

[...] Die Rambos haben scheinbar rausgekriegt, daß sie auch Rechte haben und wo sie anrufen können. In unserem Haus wohnen zum Beispiel Familien mit Kindern, die frühmorgens zur Schule müssen. Soll ein Wirt nur wegen der Nachtruhe von Kindern 10.000 DM verlieren oder gar in der Existenz seiner Dritt-Kneipe bedroht werden, wie Sie schreiben, oder sollen wir deswegen unser Bierchen nachts nicht mehr vor dem Haus genießen dürfen.

Auch beklagen sich die Anwohner unseres Hauses, daß Sie die Fenster wegen des Zigarettenrauches nicht aufmachen können oder daß sonntagmorgens der hofseitige Küchenventilator schon ab sieben Uhr anläuft, weil das Frühstücksbüfett angerichtet wird. Wie kann denn diesen Leuten die Unversehrtheit Ihrer Wohnungen garantiert werden? Schließlich dauert die „Biergartensaison“ kaum länger als ein halbes Jahr. Und haben sie sich nicht bewußt eine innerstädtische Wohnung ausgesucht?

Gaststätten sind auch für die Hausbesitzer interessant, weil sie (dank uns) gute Miete bringen. Aus diesem Grund müssen ja auch im Kiez immer mehr Läden zu Gaststätten umgewandelt werden. Es wird argumentiert, daß zuviel Autolärm entsteht, wenn die Rush-hour im Wohngebiet nach dem Theater beginnt, weil die Gaststättenbesucher am liebsten direkt vor die Gaststätte fahren oder bei großem Andrang um den Block kurven. Es ist doch ganz klar, daß das nicht ohne Huperei oder Abgase abgeht. Sind wir nicht alle froh, daß es noch genügend Leute gibt, die sich ein teures, offenes Auto halten und das auch benutzen wollen?

Es kann doch nicht angehen, daß auch das Gaststättengewerbe Autoabstellplätze nachweisen oder auslösen soll. Ein Wirt muß öffentliches Straßenland unbegrenzt und unentgeltlich nutzen können! Und dem hat wirklich keine Idylle entgegenzustehen.

Welche Idylle eigentlich? Die armen Seelen der 68er dafür zu diskriminieren und deren Eltern gleich noch mit dazu, halten wir für oberprovinziell. Anstatt überholten Bildern falschverstandener und interessengebundener Urbanität nachzuhängen, könnte Berlin eine Hauptstadt werden, wie es bisher noch in keinem GEO zu lesen war und wie sie sich auch in manchen Köpfen der taz noch nicht gebildet hat. W.B. Peck

[...] Auch der Jahrgang 63 schützt vor Kurzsichtigkeit nicht. Um zunächst die Fronten ein wenig zu differenzieren: Die meisten der Gegenden in der Innenstadt, die unter der Expansion und der Rücksichtslosigkeit vieler Profikneipiers (vielleicht auch einige des Jahrgangs 63) leiden, sind sozial (noch) sehr gemischt, die Kiezstruktur ist noch zum Teil intakt: Alte Leute, Arbeiter, Menschen im Schichtdienst, Menschen mit schulpflichtigen Kindern, viele, die morgens früh raus müssen, wohnen hier ebenso wie BAT-II-A- Dinkis und Studenten, die laut taz- Untersuchung einen wichtigen Teil der Leser der taz bilden. An drei Abenden einer Unterschriftensammlung haben zirka 70 Familien allein im westlichen Teil des Stuttgarter Platz gefordert, daß die Biergärten vor den Häusern, in denen sie wohnen, nur bis 22 Uhr betrieben werden dürfen (so ist auch die gesetzliche Regelung seit Jahrzehnten, nur: money makes the world go round, kein Kneipier schert sich freiwillig drum). Von Sperrstunde zu sprechen, beruht auf Unwissen und bewußter Irreführung des Lesers. Natürlich gibt es für den Kneipenbetrieb drinnen weiterhin keine Sperrstunde.

Alles militante Hauptstadtgegner, die Severin sein Bierchen nicht gönnen oder Menschen mit Schlaf- und Erholungsbedürfnis? Was meint Severin denn, wie gut es sich bei dem Kneipenlärm, bei unzähligen an- und abfahrenden Autos, am besten bei offenem Fenster damit auch der Rauch von 200 Glimmstengeln pro Stunde die Schlafzimmeratmosphäre anreichert, schlafen läßt? Vielleicht sollte er es an eigenem Körper und Psyche mal testen. Von all dem kein Wort im Artikel und Kommentar.

War die taz nicht auch angetreten, um für bessere Lebensbedingungen breiter Bevölkerungskreise zu kämpfen? Weiter so in Personalunion mit der Gaststätteninnung, der es nur um eines geht: den Umsatz!

Die Verwaltung hat nur reagiert, weil die betroffenen Anwohner begonnen haben, sich zu wehren. All dies verschweigen und verdrehen Artikel und Kommentar. Zeitgeist-Schuldige? Fragt sich nur wer? Severin als Vorkämpfer für die, die eh die besseren Karten gezogen haben? Warum sollen die, die nicht früh rausmüssen, ihr Bier nicht nach 22 Uhr drinnen in der Kneipe trinken und andere, die es brauchen, in Ruhe schlafen lassen?

Quizfrage für interessierte Leser: Wann muß Severin morgens aufstehen? Hans Mirfeld

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