Japan sucht neuen Regierungschef

Die Parlamentswahlen bescheren dem Land eine Phase der politischen Unstabilität / Schwere Schlappe für Umwelt- und Frauenbewegung / Regierungschef Miyazawa will weitermachen  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Die Frage lautet nun: Wer wird Japans nächster Premierminister?“ hob der Nachrichtenmoderator des halbstaatlichen japanischen Fernsehens NHK am Montag abend zur Berichterstattung über den Tag Eins nach dem Ende von Japans vierzigjähriger Einparteienherrschaft an. Doch am Ende der Nachrichten vermeldete der Sender: „Alles bleibt unklar.“ Der einzige, der nach dem historischen Wahlausgang vom Sonntag, bei dem Japans alte politische Ordnung unter den Stimmerfolgen neuer konservativer Parteien zerbrochen war, eine unveränderte Welt beschwor, war der noch amtierende Premierminister: „Wir haben ein klares Mandat zur Bildung der Regierung gewonnen“, erklärte Regierungschef Kiichi Miyazawa, statt seinen von allen erwarteten Rücktritt bekanntzugeben. „Ich trete zur Wahl des Premierminister an, wenn die Partei das wünscht.“

Tatsächlich aber forderten die übrigen Spitzenpolitiker der Liberaldemokratischen Partei (LDP) gestern den Rücktritt Miyazawas. Immerhin verlor die bislang als unschlagbar geltende Regierungspartei mit einem Stimmenergebnis von 36,6 Prozent am Sonntag fast ein Viertel ihrer Wähler. Bei den Parlamentswahlen 1991 hatte ihr Anteil noch bei 46,1 Prozent gelegen. Daß sich der Abgang des letzten großen Parteiseniors Miyazawa gestern noch verzögerte, resultierte lediglich aus dem Mangel eines geeigneten Nachfolgers.

Überall im Land gab es am Montag besorgte Minen. Die Atomkraftgegner klagten über das Ausscheiden der letzten sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich noch für eine zukunftsorientierte Energie- und Umweltpolitik eingesetzt hatten. Ebenso enttäuscht waren die Frauenorganisationen, nachdem sechs von neun Parlamentarierinnen der Sozialdemokraten, die der Frauenbewegung nahestanden, kein zweites Mandat errangen. Nicht einmal die Unternehmerverbände wollten sich so recht über die Niederlage der ihnen verhaßten Sozialdemokraten freuen. Der Stimmenanteil für die größte Oppositionspartei rutsche von 1991 24,4 Prozent bei diesen Wahlen auf katastrophale 15,4 Prozent. Die Unternehmen fürchten nun vor allem die sich ankündigende Phase der politischen Unstabilität in einer Zeit, wo sie sich von der Regierung weitere Konjunkturmaßnahmen erhofft hatten. „Die Firmen,“ warnte Arbeitgeberpräsident Ryo Hayami, „müssen ihre Abhängigkeit von der Regierung schleunigst abbauen.“ – „Da niemand weiß, wer in Zukunft mit wem regiert“, bemerkte gestern ein Professor der Tokioter Sophia-Universität, „sträuben sich alle Parteien gegen die Festlegung auf wichtige langfristige Themen.“

Tatsächlich richteten sich gestern alle Augen auf die „Neue Partei Japans“ (JNP), die am Sonntag mit einem Wähleranteil von 8,0 Prozent erstmals ins Parlament einzog und mit ihren Stimmen über die Wahl des nächsten Regierungschefs entscheidet. Als einzige Partei verweigerte die JNP auch gestern noch jede Koalitionsaussage. Zwar wurde die JNP von dem Ex-LDP-Gouverneur, späteren Parteidissidenten und Fürstensohn Morihiro Hosokawa ursprünglich zur Beseitigung der LDP-Herrschaft gegründet. Doch Hosokawa Allüren sind derart aristokratisch, daß man ihm vorwirft, seine Mitarbeiter wie Diener zu behandeln und manche in dem eloquenten Schönling bereits den zukünftigen Außenminister einer LDP-Koalition sehen. Warum aber entscheidet ausgerechnet ein Feudalherr über die Abschaffung der LDP-Aristokratie?

Weil Morihiro Hosokawa um sich herum die jüngste, beweglichste und besttrainierteste Parteianhängerschaft gesammelt hat. Viele der neuen JNP-Parlamentarier waren Absolventen des elitären Politik- und Managementseminars von Konosuke Matsushita, dem verstorbenen Gründer des Elektronik-Imperiums Matsushita. Danach reüssierten sie beispielsweise als Börsenfachmann, TV-Jounalistin oder Gründer einer Bürgerinitiative. Unter ihnen befindet sich der 40jährige Juichi Takami, der innerhalb von 10 Jahren Japans erfolgreichste Recycling-Initiative aufbaute und vor seiner Kandidatur die „Umweltbibliothek“ in Tokio leitete.

Polit-Youngster wie Takami brachten am Sonntag genau jene liberalen städtischen Protestwähler hinter sich, die noch bei Wahlen 1991 für die „Madonna“-Bewegung unter der damaligen Führerin der Sozialdemokraten, Takako Doi, stimmten. Damals verkörperte der Protest immerhin noch Gleichberechtigung für Frauen, AKW-Baustopp und die Abschaffung einer verbraucherfeindlichen Mehrwertsteuer. Wofür der Börsenkrösus, das Fernsehidol und der Basismanager gemeinsam ins Parlament ziehen, haben die drei freilich bisher nicht mitgeteilt.

Aufgrund solcher Individualisten in den Reihen der JNP, die den eigentlichen Aufbruch bei diesen Wahlen verkörpern, könnte die Spannung über die Entscheidung des nächsten japanischen Regierungschefs sehr gut bis zur Abstimmung im Parlament Anfang August anhalten.