Die Funktionalisierung der Toten

■ betr.: Berichterstattung, Gedanken und Gefühle zu Bad Kleinen

betr.: Berichterstattung, Gedanken und Gefühle zu Bad Kleinen

Das, was da vor drei Wochen begonnen hat und seitdem anhält, verschlägt mir immer wieder die Sprache. Ich frage mich, wie das passieren konnte? Wieso laufen sie noch mit einer Waffe herum, was seit 20 Jahren immer wieder bei Verhaftungen zur Katastrophe geführt hat? Also genau die Frage, die Gerd Rosenkranz in einem seiner ersten Kommentare dazu gestellt hat. Wie ist das vereinbar mit der Erklärung vom letzten Jahr. Wenn keiner der Elite mehr angegriffen wird, warum dann einer vom Fußvolk, oder glaubt jemand tatsächlich, es wäre auch dann so abgelaufen, wenn Birgit und Wolfgang keine Waffen getragen hätten? Ich habe mich an meine Verhaftung erinnert. Einer der Leiter sagte wörtlich zu mir, wenn ich eine falsche Bewegung mache, wird die Luft sehr bleihaltig. Aber ich hatte eben keine Waffe mehr, das ist der grundsätzliche Unterschied zu der Situation in Bad Kleinen. Wenn man eine Waffe trägt, wird man sie auch anwenden, bewußt oder in Panik oder in Wut, und der Tod, der dann daraus folgt, ist immer sinnlos. Das macht dieses Wochenende für mich aus. Daß zwei Leute gestorben sind, daß andere physisch und vielleicht noch mehr psychisch verletzt worden sind. Darüber wäre zu reden, und es muß wieder die Frage gestellt werden, welchem besseren Ziel das dienen kann. Und die Frage muß beantwortbar sein für beide Toten, ganz konkret, und für jeden, der verletzt wurde.

Was seitdem abläuft, ist von beiden Seiten gleichermaßen zynisch. Die eine Seite, die „linke“, erklärt den ihren zum Helden und meint, den anderen, den von der „Rambo-Truppe“, vergessen zu dürfen. Über den schreibt aber vielleicht jemand genauso, wie Birgit über Wolfgang geschrieben hat. Sein Recht auf Leben war genauso groß wie das von Wolfgang, und es war von niemandem zur Disposition zu stellen. Für die andere, die staatliche Seite, geht es nur noch darum, das Unglaubliche nicht offen zu machen. Und das Unglaubliche ist nicht mehr nur die Möglichkeit, daß ein Vertreter dieses Staates glaubt, in der Erfüllung seiner Aufgabe morden zu dürfen, sondern auch die Tatsache, daß dies zu vertuschen wichtiger wird als die Wahrheit. Das politische System verletzt damit nicht nur seinen eigenen moralischen Anspruch, es setzt damit auch offen eine neue moralische Norm. Da spielen die Toten keine Rolle mehr, und Trauer wird, wenn sie überhaupt geäußert wird, nur noch plakativ.

Wenn ich versuche, mir den Moment vorzustellen, in dem Wolfgang erschossen wurde, dann kommt mir das Bild in den Sinn, auf dem zu sehen ist, wie der Polizeichef von Saigon einem Gefangenen in den Kopf schießt. Das war Mord. Das war es dann auch in Bad Kleinen. Wenn daraus nun Hinrichtung oder Exekution gemacht werden, fängt da schon die Funktionalisierung der Toten an, und gleichzeitig wird dem, der gemordet hat, gestattet, sich zurückzuziehen. Einer Hinrichtung geht ein Todesurteil voraus, es stellt sich als ein juristischer Akt dar, und der Henker will kein Mörder sein, er führt ja nur aus. Es war auch kein Moment in einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Guerilla und Staat, die alles auf die Ebene einer höheren Verantwortung hebt und gleichzeitig Schuld und Verantwortung des einzelnen relativiert.

Um nicht mißverstanden zu werden: es sind Menschen erschossen und verletzt worden, und es geht darum festzustellen, durch wen und unter welchen Umständen. Aber weiter geht es für diejenigen, die sich und diese Gesellschaft noch nicht aufgegeben haben darum, Wege zu finden, um dieses Gewaltverhältnis, das in den Geschehnissen in Bad Kleinen zum Ausdruck gekommen ist, zu überwinden. Werner Lotze, Berlin