: „Ihre Lieder sind bestialisch!“
■ Eine Interpretin über die Komponistin Lili Boulanger, die heute 100 Jahre alt würde
Heute ist der 100. Geburtstag der französischen Komponistin Lili Boulanger. Bremen feiert die Künstlerin, die außergewöhnliche Chor- und Solokantaten und Instrumentalwerke hinterlassen hat, in einem kleinen Festival mit Ausstellung und Konzerten. Die taz sprach mit der Sopranistin Birthe Lüthje-Bergner, die gestern ein Lied aus „Clairieres dans le ciel“ sang, über eine mythenumwobene Frau.
taz: Lili Boulanger hat Liebesgedichte von Francis Jammes vertont. Sie hat angeblich nie eine Liebesgeschichte erlebt. Hat sie leidenschaftlich komponiert?
Birthe Lüthje-Bergner: Was sie in ihrer Musik zum Ausdruck gebracht hat, das ist sehr leidenschaftlich. Aber es ist schwierig, da zwischen religiösem Gefühl und Leidenschaft zu unterscheiden. Lili hat sich viel mit Mystik beschäftigt. In ihrer Musik ist ganz viel, was man nicht erklären kann.
Das fasziniert Sie?
Da steckt immer irgendetwas drin, dem man sich nicht entziehen kann. Sie hat ihre Musik verschlüsselt. Hinter dem, was man eigentlich hört und weiß, steckt noch mehr.
Wie geht es Ihnen beim Singen? Sind Lili Boulangers Werke schwierig zu interpretieren?
Ihre Lieder sind bestialisch, die gehören in eine Oper. Man muß oft stundenlang ganz hoch bleiben, und das kommt dann aus dem Nichts, also von ganz unten. Es ist vor allem schwierig, dieses Entrückte rüberzubringen. Sie spielt sehr mit den Harmonien. Manchmal, als ich schon dachte, ich hätte es, meinte ich: Oh, da ist ein Ton, der ist völlig verkehrt. Ihr letztes Werk Pie Jesu ist, als ob sie bei Feidman Unterricht gehabt hätte.
Sie ist 24 geworden. Hat sie jugendlich ungestüm komponiert?
Ungestüm wie etwa Camille Claudel war sie wohl nicht. Lilis Psalmenkompositionen sind bombastisch, und die Lieder sind sehr zart. Zart und doch ganz kraftvoll. Es ist eine Bewußtheit, die durchdrungen ist von Religiösität und ihrer eigenen musikalischen Sprache. Sie hat sich von ihren Lehrern Debussy und Ravel abgesetzt, ist weitergegangen, hat Grenzen überschritten.
hier die Frau
Birthe Lüthje-Bergner, Sopran
Ist Lili Boulanger in die Musikgeschichte einzuordnen? Ist sie eine Romantikerin?
Sie hat die Musik ihrer Zeit bestens gekannt. Ich will sie aber nicht Romantikerin nennen. Sie hat alle guten Qualitäten, die man ihren zeitgenössischen männlichen Komponisten nachsagt. Aber eben noch mehr.
Haben Sie ein spezielles Interesse an ihr als Frau?
Für mich ist die Arbeit mit Lili Boulanger gut, weil ich Musik von einer Frau machen kann, die über das hinausgeht, was in ihrer Zeit en vogue war. Gespräch: Silvia Plahl
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen