: Die Droge Theorie
Das Ende der Simulation – Wolfgang Hilbigs Roman „Ich“ ■ Von Peter Walther
Zwischen zwei Spiegel tritt ein Betrachter, dem sich eine gleichermaßen banale wie faszinierende Perspektive erschließt: scheinbar unendlich bildet das Bild sich im Bilde ab. Der Betrachter ist Wolfgang Hilbig und sein neues Buch heißt „Ich“. Held des Romans ist Cambert, ein Schriftsteller, der als Heizer arbeitet – oder umgekehrt.
Das biographische Gerüst von Camberts Leben läßt sich nur aus verstreuten Hinweisen rekonstruieren: während des Krieges geboren, vaterlos aufgewachsen, wohnt er zunächst in der Kleinstadt A. unweit von Leipzig und zieht später nach Berlin um. Als Cambert den literarischen Plan verfolgt, seinen Lebenslauf in Gestalt einer fiktiven Person zu verschriftlichen, läßt Hilbig ihn über die Gefahr nachdenken, als Autor mit dem Produkt seiner Schöpfung verwechselt zu werden: „Er fragte sich, ob das Gespenst, das er da beschrieb, nicht sofort mit ihm selbst identifiziert werden würde, wenn man nur annähernd etwas über seine Vergangenheit wußte.“
Man muß nicht viel von Hilbigs Vergangenheit wissen, um sie in der Biographie seines Helden wiederzuerkennen: 1941 in Meuselwitz nahe der Kleinstadt A. (Altenburg) im sächsischen Braunkohlerevier geboren, der Vater ist bei Stalingrad vermißt, arbeitet er viele Jahre lang als Hilfsschlosser, Erdbauarbeiter, Außenmonteur und – als Heizer. In den siebziger Jahren zieht Hilbig nach Berlin um, sein erster Band mit Lyrik („abwesenheit“, 1979) erscheint zunächst nur im Westen. (1985 ist Hilbig dann übergesiedelt, zunächst mit einem Dauervisum.)
Parallelen zuhauf – und je genauer sich die Biographie Hilbigs mit dem Lebenslauf seines Helden deckt, desto pikanter erscheint die Zäsur, die das Leben des Schriftstellers Cambert in die Finsternis vergessener Vorzeit und den sogenannten „Berichtszeitraum“ teilt: eine Zäsur, vollzogen mit der Unterschrift unter eine „Vaterschaftserklärung“, worin die Rollen des Vaters und des Sohnes changieren. Die Stasi dichtet Cambert, um ihn zu erpressen, ein Kind an; unterschreibt er die Vaterschaftserklärung, kommt die Geheimpolizei für die Kosten auf, der untergeschobene Sohn und der angebliche Vater jedoch kommen unter die Fittiche von Vater Staat. Daß der Handel auf einer Fiktion beruht, ist schnell vergessen, denn Camberts Führungsoffiziere bestärken den Heizer in seiner versprengten Existenz als Schrifsteller. Im Gegenzug späht Cambert einen Schriftstellerkollegen aus, besucht dessen Lesungen und schreibt Berichte, die jedoch bei seinem Führungsoffizier auf immer weniger Interesse treffen.
Jetzt mag, wer das literarische Zeitgeschehen verfolgt hat, einen Roman über die Stasi-Verstrickung ostdeutscher Literaten erwarten, gar einen Roman über Sascha Anderson: das Buch zur Untat, ein Auftragswerk, diktiert vom Zeitgeist. Doch Hilbig ist nicht Hochhuth und Cambert nicht Anderson, auch wenn er, ähnlich wie Sascha A., sein Spitzeldasein mit Begriffen von Baudrillard beschreibt und mit seinem Führungsoffizier „Feuerbach“ über Foucault parliert.
Der die Vaterschaftserklärung mit „Cambert“ unterschrieben hat, heißt eigentlich M.W. und führte vor dem Berichtszeitraum das Leben eines schreibenden Arbeiters, bis ihm die Stasi die Existenz als arbeitsloser Schreiber ermöglichte. Damit begann, nach langen Jahren der Simulation, die Realität. Simulation, das waren die Jahre, in denen M.W. „andauernd in Schreibversuchen verstrickt war, in Unmengen von Entwürfen“, eine Zeit, „die ihm entglitten war wie ein unhaltbares Gepinst aus überspannten Vorstellungen und Selbsttäuschungen“. Erst mit den Befehlen, die sein Schreiben auf einen Zweck lenken, bricht die Realität ein, Befehlen, „denen deutlich anzumerken war, daß sie auf bestimmte Eigenheiten seiner Lebensweise zugeschnitten waren“.
Das klingt fast wie ein psychologisches Erklärungsmuster für die moralische Immunschwäche des Schriftstellers: gegen das Gefühl, mit dem Schreiben von Berichten etwas bewirken zu können, steht die vormalige Ohnmacht und Erfolglosigkeit als Hobby-Literat. Aber es ist mehr als das: die Helden in Hilbigs Prosa sind zumeist zerrissene, gespaltene Personen, für die das Schreiben ein existentieller Akt der Selbstbehauptung ist. Der Protagonist in Hilbigs Erzählung „Die Weiber“ (1987) erklärt: „Wenn es mir gelang, den Besitz einer Identität zu verspüren, wenn ich irgendeine schleierhafte Wertvorstellung von meinem Ich je zu entwickeln imstande war, so stets nur dadurch, daß ich mich schreibend als ein Subjekt erfuhr.“
Die Stasi offeriert Cambert eine besonders zynische Variante der Selbstverwirklichung: sie verlangt ihm, in seiner Funktion als „Inoffizieller Mitarbeiter“, schriftliche Berichte über seine Rolle als Literat in der Szene ab. Dabei treibt die literarische Ambitioniertheit des Informanten seltsame Blüten. Beim Auftrag, die Anwesenden einer Lesung zu beschreiben, läßt er sich selber nicht aus, sondern schildert seine eigene Person in Statur, Augenfarbe, Haarschnitt und so weiter, ein Bild übrigens, das sich mit der Erscheinung Hilbigs deckt. Als sein Führungsoffizier einmal vier Wochen nichts von sich hören läßt, beklagt Cambert: „Ich war über mich selbst nicht mehr informiert.“
Hilbig beschreibt die Innenansicht eines Helden, der er selbst sein könnte. Während seiner Kindheit in der Kleinstadt A. fühlte er sich von den unterirdischen Gängen einer zerstörten Munitionsfabrik am Stadtrand angezogen. Im Prosatext „Die Weiber“ oder in der Erzählung „Alte Abdeckerei“ wählen die Protagonisten den Keller als Refugium. Zugleich bedeutet der Keller aber auch einen sozialen Standort: der Heizer- Schriftsteller Cambert kennt sich gut aus im „Unterbau“. Er schleicht durch die feuchten Gänge unterhalb der Ost-Berliner Altbauquartiere, während sich in den Wohnungen darüber die halblegalen Lesungen und Performances der Szene abspielen.
Hilbig gibt sich keine Mühe zu verschleiern, daß er bei seinen Milieubeschreibungen die Literaturszene am Prenzlauer Berg im Sinn hatte. Im Roman wimmelt es nur so von zumeist ironischen Anspielungen auf die „Prenzlauer-Berg- Connection“ (Endler), und trotz des obligatorischen Hinweises auf die Fiktionalität der Personen ist der Leser versucht zu entschlüsseln, wer sich dahinter verbergen mag – Schedlinski vielleicht, oder doch Anderson?
Nicht nur die scheinbare Authentizität der Milieubeschreibung, sondern auch Hilbigs Projektion der eigenen Biographie in die seines Helden verleitet dazu, den Roman wie eine Stasi-Akte zu lesen. Hilbigs geschickte Konstruktion dieser Doppeldeutigkeit sagt mehr über das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit als die populären Theorien der Simulation. An der Person „Cambert“ wird, aus verschiedenen Perspektiven, der Mißbrauch der Droge Theorie zur Ruhigstellung des Gewissens durchgespielt. Zwei auktorial erzählte Kapitel bilden den Rahmen für eine Rückblende, die in der Distanz der dritten Person erzählt wird. Bleibt am Anfang noch unklar, woher der Eifer des Informanten Cambert rührt, über seinen Schriftstellerkollegen zu berichten, wird im Rückblick auf seine Herkunft ein wesentliches Motiv deutlich: vor allem der Wunsch, als Schriftsteller anerkannt zu werden, treibt ihn in die Fänge der Stasi.
Was es mit dem Desinteresse der Behörde an Camberts Berichten auf sich hat, wird erst am Ende des Romans aufgeklärt. Doch das Buch käme sogar ohne diese Spannung aus: Hilbig schreibt rhythmische Prosa, seine Sätze haben Sogwirkung, und es gibt keinen Ausstieg aus diesem Text. Wolfgang Hilbig ist es gelungen, die unwirkliche Atmosphäre der letzten DDR- Jahre wiederzubeleben.
Wolfgang Hilbig: „Ich“. S. Fischer Verlag, 379 Seiten, 39,80 DM
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