Der Geist des Arbat ist tot

Moskaus berühmte Straße, die „uliza Arbat“, feiert ihren 500. Geburtstag. Für die Alten der Inbegriff des Geisteslebens, für die Jungen nur noch traditionelle Theaterkulisse. Denkmal für eine untergegangene Epoche  ■ Von Christoph Keller

Dieses Jahr feiert die uliza Arbat ihren 500. Geburtstag. Die Arbater Straße, in Gehdistanz vom Kreml, ist Moskaus erste Fußgängerzone. Das Stadtviertel, dem sie den Namen gab, liegt zwischen dem Garten- und dem Boulevardring im Zentrum von Moskau. Die Straße ist etwas mehr als einen Kilometer lang und, um den Windstoß zu brechen, leicht gekrümmt. Flankiert von den restaurierten Fassaden der klassizistischen Miets- und Geschäftshäuser, in den bunten Perestroika-Farben Gelb, Rosarot und Pistachegrün angestrichen, ist die Arbater Straße wie eine Theaterkulisse.

Auf der Bühne des Arbat tummeln sich all diejenigen, die „damals“, vor dem Ausverkauf der Ideologien, noch verboten, verdrängt und unterdrückt waren: Punks, Straßenmusikanten, Stegreifredner für oder gegen alles (inklusive der Regierung), selbsternannte Künstler, Prostituierte, Trickdiebe, altmodische Marxisten, fortschrittliche Zaristen, Sektierer, Betrunkene, Schutzgelderpresser, die unvermeidlichen Porträtisten.

Dieses zusammengewürfelte bunte Völkchen verwandelt den ehrwürdigen Arbat in ein faszinierendes Laboratorium der bereits historischen Perestroika und der Jelzin-Zeit, für die sich noch kein Schlagwort als Bezeichnung durchgesetzt hat. Doch was vor wenigen Jahren noch ausgelassen, fröhlich und experimentierfreudig angemutet haben mag, verleiht dieser rätselhaften Straße heute eine weitere Note des neurussischen „Anything-goes“-Trends. Es ist nicht mehr nur das russische Bedürfnis, aufzuholen, was man vermeintlich verpaßt hat. In diesem (oberflächlich betrachtet) fröhlichen Treiben blitzt die große Orientierungslosigkeit auf, die in diesem Land herrscht. Und diese drückt sich auch darin aus, daß bislang buchstäblich sämtliche Werte verkauft wurden.

Bücher über jedes Thema, von der Erotikmassage über den lange verbotenen Nabokov bis zu seligmachenden Heilslehren, wurden im Arbat gleich dutzendweise angeboten. Gefälschte oder geklaute Ikonen, welche man daran erkannte, daß der Verkaufsstand die Kühlerhaube eines startbereiten Wagens ist, hinter dessen Steuer ein düsterer Bursche sitzt. Die traditionsreichen Schkatulkis, Broschen und Eierbecher aus Palech und Matrjoschka-Puppen aus Sergejew Possad: außen ein etwas hilfloser Jelzin, der, öffnet man ihn, einen kleineren Gorbatschow zutage fördert, aus welchem wiederum, immer winziger, Andropow, Tschernenko, Breschnew, Chruschtschow, Stalin und Lenin steigen, bis wir wissen, wer hinter alledem „steckt“, nämlich der deutsche Privatgelehrte mit dem Rauschebart, Karl Marx. Anstecknadeln, die an den sowjetischen Weltraumflug erinnern, Blumen und Coca-Cola-Dosen für einen Dollar. Militärtrophäen, von der Offiziersjacke bis zum Orden, in einer Fülle und Auswahl, daß man hier noch von der Größe der sowjetischen Armee beeindruckt war.

Heute sind die Händler zum großen Teil verschwunden, der Verkauf auf dem Arbat wurde verboten, er wird, wenn überhaupt, nur noch sehr dezent getätigt. Das etwas zwielichtige Image der Straße soll wieder aufgemöbelt werden. Die Straße beginnt am Arbater Platz mit dem berühmten Restaurant „Praga“, einer ehemaligen Kutschenstation, an deren Stelle 1902 ein Edelrestaurant im Jugendstil errichtet wurde. Der russische Dichterfürst Lew Tolstoj und der russische Malerfürst Ilja Repin speisten hier. Ohne Schmiergelder würden auch die beiden heute wohl keinen Platz mehr hier kriegen. Der Arbat beginnt aber auch, 1.200 Meter entfernt, mit einer der sieben „Kathedralen“ Stalins, dem im sogenannten Zuckerbäckerstil gebauten, 26stöckigen Außenministerium.

Dazwischen liegt das „Literarische Café“ (Haus Nr. 7), das die Dichter Jessenin und Majakowski aufgesucht haben; das berühmte Wachtangow-Theater (Nr. 26), benannt nach dem neben Tairow und Mejerchold wichtigsten Vertreter des russischen Revolutionstheaters (das Gebäude wurde allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut); und das mit Ritterfiguren geschmückte Haus Nr. 35. Im ersten Stock, im berühmten „Samozwetij“, kann man Edelsteine kaufen – vorausgesetzt, man ist nicht aus Rußland oder unehrlich genug, um über so viele Devisen zu verfügen.

Der eigentliche Höhepunkt der Straße jeodch ist das Haus Nr. 53, in dem der populärste Dichter Rußlands, Puschkin, 1831 drei Monate lang mit seiner jungen Frau, der Schönsten im Lande natürlich, seine Flitterwochen verbrachte. Das war Moskau ein Museum wert. Warum aber ist Moskau diese Straße, die einen Allerweltsmarkt und ein Museum aufweist, eine Feier wert?

Gefeiert wird nichts Greif-, Fotografier- oder Heimtragbares. Nein, gefeiert wird das Besondere dieser Straße. Die sogenannte arbatstwo, die Aura des Arbat. Sein Geist. Und wie feiert man einen Geist? Indem man ihn beschwört. Der Arbater Geist ist die Vergangenheit dieser Straße (aber auch des gleichnamigen Viertels), und – leider – mittlerweile selber Vergangenheit.

Den jungen Moskauern bedeutet der Name Arbat aber etwas ganz anderes. Die Adresse eines Videoshops, den es früher in Moskau nicht gab. Ein Treffpunkt. Der Standort des Graffiti-Altars, der dem 28jährig verstorbenen Viktor Zoj, Sänger der sowjetischen Rockband Kino, in einer Seitengasse errichtet wurde. Oder der Name bedeutet ihnen gar nichts mehr. Nicht umsonst gibt es eine Straße, die Neuer Arbat heißt.

Für die ältere Generation ist der Arbat das Symbol des alten Moskau. Anatoli Rybakow, 1911 geboren und Autor der berühmten „Kinder vom Arbat“, bezeichnet ihn als „das eigenständige Symbol der Intelligenz, der Kultur, der Richtigkeit der Traditionen“. Der Arbat ist der Inbegriff des Moskauer Geisteslebens, im 18. Jahrhundert „Adelsnest“ und „Moskauer Saint-Germain“ im 19. Synonym für die progressive Intelligenzija. Die Arbater Straße war die kulturelle Arterie Rußlands, die, von Moskau, dem russischen Herzen aus, das ganze Land durchblutet hat.

Es gibt an dieser Straße keinen Stein, der nicht Anspruch auf eine Gedenktafel hätte; kein Haus, in dem nicht ein bedeutender Russe geboren wurde, gewohnt hat oder gestorben ist; keinen Ort, in dem nicht eine bedeutende Versammlung stattgefunden hat, Memoiren geschrieben wurden oder das literarische Geschöpf eines Schriftstellers gewohnt hat. Die Liste der Namen mit der Arbater Adresse liest sich wie das Who's who der russischen Kultur: die Dichter Puschkin, Lermontow, Gogol, Ostrowski, Herzen, Bunin, Majakowski, Zwetajewa, Bulgakow; die Musiker Tschaikowsky, Rubinstein, Skrjabin, Rachmaninow; die bildenden Künstler Iwanow, Lewitan, Wrubel, Melnikow; die Theaterleute Motschalow, Komissarschewskaja, Wachtangow; die „Familien“ der Intelligenzija Tolstoi, Gagarin, Kropotkin, Dolgoruki, Wolkonski, Schachowskoi, Sologub. Es fehlen die unzähligen Kaufleute, Bürgerlichen, Industriellen, die hier wohnten, manchmal selber berühmt wurden, in jedem Fall aber dem Arbat Architektur und Aura verschafft haben.

Allein die Arbater Straße ist eine Enzyklopädie wert. Nein, sie ist eine Enzyklopädie. Geschrieben hat sie, rechtzeitig zum Jubiläum, der gebürtige Arbater Imanuil Levin. Ihr Titel: „Die Enzyklopädie des Arbat“. Deshalb sprechen die alten Moskauer das Wort Arbat mit Ehrfurcht aus. Es ist die Seele Rußlands.

War die Seele Rußlands. Die Tragik der Arbater Straße ist, daß man nur noch in der Vergangenheitsform von ihr sprechen kann. Denn es gibt sie längst nicht mehr. Ihre Bewohner versuchte Stalin, der alle, die intellektueller waren als er (und das waren viele), haßte, auszutrotten – mit erschütterndem Erfolg. Der Zweite Weltkrieg zog die Söhne des Arbat ein; wer übrigblieb, fiel den Massenaussiedlungen der Kommunalen zum Opfer, die nach dem Krieg einsetzten. Hinter den Fassaden der Arbater Straße gibt es denn auch viele der sogenannten Kommunalki: Gemeinschaftswohnungen, in denen auf engstem Raum drei, vier Familien leben. Der Vernichtung der Bewohner des Arbat folgte die Vernichtung seiner Gebäude durch Chruschtschow in den sechziger Jahren.

„Das Herz ächzt ebensosehr von niedergerissenen Häuserzeilen und Mauern wie von einem abgeholzten Wäldchen. Der Arbat ist unser Kirschgarten“, schrieb der Moskauer Lyriker Andrei Wosnessenski. Tatsächlich verhielten sich die kommunistischen Führer zum Arbat wie der kapitalistische Unternehmer Lopachin in Anton Tschechows gleichnamigem Theaterstück. Mit der Zerstörung des Arbats beziehungsweise des Kirschgartens versuchten sie, eine Epoche auszulöschen. Lopachin im „Kirschgarten“ ist es gelungen.

Auch der Arbat ist gründlich abgeholzt. Der Geist Rußlands ist längst entwichen. Bulat Okudschawa etwa, der Arbater Poet, im Haus Nr. 43 geboren, ist mit dem Geist geflohen. Zwar hat er der Straße mit dem „Lied vom Arbat“ ihr vielleicht berühmtestes literarisches Denkmal geschaffen, doch wohnen mag er hier nicht mehr. Für ihn ist der „Kirschgarten“ ein Bühnenbild, dessen eigentliche Handlung hinter den Kulissen spielt. Es ist der tägliche Kampf ums Nötigste, der Streit in den Wohnungen, weil die Menschen zu eng aufeinander leben müssen, Überlebenskriminalität und die alltägliche Vergewaltigung. Während hier die Menschen nichts nötiger brauchen als Brot, wird dem Touristen auf der Straßenbühne des Arbat der Kaffee gegen Devisen serviert.

Der Arbat ist das Denkmal einer endgültig untergegangenen Epoche. Der Kommunismus hat ihn, wie Lenin in seinem Mausoleum, mumifiziert, als „lebenden Leichnam“ (Lew Tolstoi hat ein Theaterstück mit diesem Namen geschrieben, das nur 200 Meter vom Arbat entfernt spielt) zwar nicht am Leben erhalten, aber auch nicht sterben lassen.

Vielleicht ist das der Sinn dieses Jubiläums: eines „Toten“ nicht nur zu gedenken, sondern ihn auch – endlich – zu beerdigen. Er wäre nicht der einzige in Moskau.