: „Normale und psychisch Kranke“
■ Saga führt Detail-Statistik über ihre MieterInnen
Über dem handschriftlich verfaßten 5-Seiten-Papier prangt, fingerbreit und dick unterstrichen, der Hinweis „INTERN“. Aus gutem Grund. Denn das Dokument aus dem Hause SAGA, Geschäftsbereich Harburg, wirft ein Licht auf die Datensammelleidenschaft des Wohnungsbaukonzerns. Sein Inhalt: Eine detaillierte „Datenerfassung“ über die Nationalität, die finanzielle Situation und die Probleme von 162 BewohnerInnen der Saga-Siedlung „Heimfeld-Nord“.
Der Verfasser der Detailanalyse heißt Willi von Buggenum und arbeitet in dem Brennpunktgebiet für die Saga als Sozialarbeiter. Für den Heimfelder Saga-Projektleiter Heinz Stanislawski hat er bis auf die zweite Kommastelle genau die BewohnerInnen der Heimfelder Saga-Blocks klassifiziert. Nach Kriterien wie 'normale' und „psychisch kranke Mieter“.
„Kein übliches Verfahren“, bewertet Stanislawski eine solche Form der MieterInnenklassifizierung und ergänzt: „Über die Problematik einer solchen Aufstellung bin ich mir sehr wohl bewußt“. Nur habe er „keinen anderen Weg gewußt“, die PolitikerInnen auf die Problemzone Heimfeld-Nord aufmerksam zu machen. „Wenn wir Hilfsmaßnahmen von der Sozialbehörde fordern, müssen wir detailliert belegen können, was hier in Heimfeld los ist“, begründet von Buggenum seine schriftliche Analyse der MieterInnenstruktur.
Doch gerade das kann das Papier nicht, denn seine Daten sollten die Saga nie verlassen. Heinz Stanislawski: „Das sind unsere Privatzahlen, die geben wir nicht weiter“. Die höchst privaten Daten aber fand ein Spaziergänger nach eigenen Angaben in Harburg auf der Straße. Datenschutz ade.
Was der Finder lesen konnte, wirft in der Tat ein alarmierendes Licht auf das Problemviertel Heimfeld-Nord. So kommt von Buggenum zu dem Ergebnis, daß nur jede dritte Mietpartei über ein eigenes Einkommen verfügt, zwei drittel aber von sozialstaatlichen Transferleistungen wie Arbeitslosengeld, Rente oder Sozialhilfe leben.
Fast jedeR zehnte MieterIn sei „psychisch krank“. 27 Prozent der BewohnerInnen stuft Buggenum als „Menschen mit Suchtproblemen“ ein, wovon mindestens jedeR achte auch „illegale Drogen“ konsumiert – wahrscheinlich aber „deutlich“ mehr. Zahlen, die auch die Behörden aufwecken könnten. Der Preis dafür aber ist hoch: Ein Vermieter, der die BewohnerInnen seiner Häuser derart detailliert erfaßt, wird schnell das Vertrauen der MieterInnen verlieren.
Marco Carini
Die Sonne scheint auf die pastellgetünchten, vierstöckigen Häuserfassaden. Gründerzeit- und Nachkriegsbebauung, verputzter Backstein, Zeilenbauweise, schlichte, schnörkellose Architektur. Eine Rentnerin schleppt ihre Einkaufstaschen nach Hause. Kinder spielen auf der Straße. Zwitschernde Vögel, viel Grün am Straßenrand, wenig Verkehr, Kleinbürgeridylle. Heimfeld-Nord auf den ersten Blick.
Im Zentrum der Siedlung, Friedrich-Naumann Straße 30, zweiter Stock rechts: Das von der Saga an der Wohnungstür angebrachte Vorhängeschloß ist aufgebrochen. Die 2-Zimmer-Wohnung, erst vor drei Jahren frisch renoviert, riecht muffig. Man kann nur ahnen, wie lange sie nicht mehr gelüftet worden ist. Auf dem Putz kriecht der Schimmel, die Tapeten blättern von den Wänden, der Parkettfußboden ist durchgetreten.
Im hinteren Raum, mehr Kabuff als Zimmer, liegt eine verdreckte Matratze mit eingerissenem Bezug so versteckt, daß man sie von der Wohnungstür aus nicht erspähen kann. An ihrem Kopfende steht eine leere Bierdose, daneben stapeln sich frischgewaschene Unterwäsche und bunte Polo-Hemden zu kleinen Häufchen. Am Fuß der Matratze vier Paar Schuhe, zum Teil frisch gewienert, in Reih und Glied.
Seit zwei Monaten steht die Sozialwohnung im Herzen von Heimfeld-Nord leer – offiziell. Wer hier eine vorläufige Bleibe gefunden hat, weiß niemand. Saga-Mitarbeiter Heinz Stanislawski schätzt, daß hier im Stadtteil rund 200 Obdachlose in Kellern, auf Dachböden und in leerstehenden Wohnungen hausen. Viele Einzimmerwohnungen beherbergen drei oder vier Menschen auf Dauer – meist ohne daß die Saga je etwas davon erfährt.
Im Flur des Hauses liegen Zigarettenkippen verstreut. In einer Ecke wurde der Schmutz sorgfältig zusammengefegt: Ein Haufen aus leeren Cola- und Bierdosen, dazwischen einzelne zerknüllte Seiten eines Nackt-Magazins und ein blutverschmiertes Taschentuch. Auch an den Flurwänden klebt Blut. Heimfeld-Nord von innen – der zweite Blick.
Rund 6500 Menschen leben in den 3225 Wohnungen dieses Stadtteils, nur wenige Fußminuten von der Harburger Innenstadt entfernt. Das Kerngebiet des Quartiers besteht aus den 929 Saga-Wohnungen, die rund um die Woellmerstraße Anfang der fünfziger Jahre aus dem Boden gestampft wurden. Die meisten sind nicht größer als 30 Quadratmeter, die kleinsten haben gerade 18 Quadratmeter. Bäder sind selten, geheizt wird meist mit Kohle.
Der Satdtteil, als Wohnquartier vor allem für FabrikarbeiterInnen entstanden, hat in den vergangenen Jahren sein Gesicht verändert. Viele MieterInnen mit festem Einkommen sind in den siebziger und achtziger Jahren in „bessere Stadtteile“ gezogen. Zurückgeblieben sind die, die nirgendwo anders in Hamburg eine Wohnung finden. Das Wohnungsamt kann nur noch „Problemmieter“ hier einweisen. Menschen, die sich nicht in einer Notlage befinden, oder mehr als eine Bleibe für eine kurze Übergangszeit suchen, ziehen in die bäderlosen Löcher nicht freiwillig ein.
Heute leben vorwiegend alleinstehende Männer in der Saga-Siedlung, die meisten von ihnen sind ohne Arbeit. Mehr als die Hälfte der Bewohner lebt von Sozialleistungen, kaum weniger haben Probleme mit dem Alkoholkonsum. „Hier zählt nur die goldene Holsten-Dose“, bringt es Heinz Stanislawski auf den Punkt. Alleinstehende Frauen weist das Wohnungsamt in die besonders problematischen Wohnblocks schon lange nicht mehr ein. Stanislawski: „Wir können keiner Frau zumuten, zwischen männlichen Alkoholikern zu wohnen und im Haus-Flur ständig über Schnapsleichen zu klettern“.
Soziale Isolation und Apathie haben sich über den Stadtteil gelegt. An der vorigen Bürgerschaftswahl beteiligten sich nicht einmal 40 Prozent der Wahlberechtigten. „Wenn es hier brennt, informiert niemand mehr die Feuerwehr“, weiß Heinz Stanislawski zu berichten. Und es brennt oft in Heimfeld-Nord: 29mal mußten im vergangenen Jahr die Löschzüge der Feuerwehr anrücken; oft kamen sie zu spät.
Erst Anfang Mai zerstörte ein Feuer 6 Wohnungen in der Friedrich-Naumann-Straße 34 und 36. Neun BewohnerInnen wurden vorübergehend obdachlos. Manch einer in der Siedlung erinnert sich noch an den Tod eines an Aids erkrankten Heimfelders vor wenigen Monaten, der erst entdeckt wurde, als Kakerlaken aus der Wohnung krochen. Mitarbeiter einer Spezialfirma mußten die Wohnung in Schutzanzügen entsorgen.
Viele der arbeitslosen Mieter verlassen ihre Wohnung nur noch, wenn es unbedingt nötig ist. Oft sind sie schon mit der alltäglichen Haushaltsführung überfordert, Müll stapelt sich kniehoch in einigen Wohnungen. Um zu verhindern, daß diese Problem-Mieter aus ihren Wohnungen verdrängt werden und in Heimen untergebracht werden müssen, hat die Stadtteilkonferenz Heimfeld, in der MitarbeiterInnen der wenigen lokalen Sozialeinrichtungen zusammen mit BehördenvertreterInnen nach Perspektiven für das Elendsquartier suchen, ein Konzept „begleitendes Wohnen“ für den Stadtteil ausgearbeitet.
Drei SozialarbeiterInnen sollten Hilfen für eine berufliche Wiedereingliederung geben, den Bewohnern beim Umgang mit Sozial- und Wohnungsamt helfen und bei Nachbarschaftskonflikten vermitteln. Doch die Sozialbehörde winkte ab: Kein Geld. Nun bemüht sich die Stadtentwicklungsbehörde (Steb), Mittel aus einem vom Bundesbauministerium aufgelegten Programm „Wohnungssicherung für Obdachlose“ nach Harburg zu holen.
Steb-Mitarbeiter Helmut Faßauer spricht von einer „Massierung der offenkundigen sozialen Probleme“: „Man riecht die Armut“. Trotzdem hat seine Behörde das Harburger Armenhaus bislang nicht offiziell zum sozialen Brennpunkt erklärt. Als Traute Müller Ende Juni den Stadtteil besuchte, kam sie mit leeren Händen. Für die dringend benötigten sozialen Einrichtungen gebe es in ihrer Behörde keine „Finanzierungsgrundlage“, erklärte die Senatorin. Dafür, daß das Harburger Elendsgebiet in das Programm „soziale Brennpunkte“ aufgenommen wird, werde sie sich aber einsetzen – nach der Wahl. Henning Voscherau hat ihr jedoch inzwischen widersprochen. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in Wilhelmsburg schimpfte er an die Adresse der Heimfelder: „Die Ankündigung eines finanziellen Füllhorns führt dazu, daß sich plötzlich alle möglichen Stadtteile zu sozialen Brennpunkten erklären“.
Den Schulleiter der Heimfelder Grundschule, Rainer Kühlke, machen solche flott formulierten Unterstellungen sauer: „Die Politiker sind doch viel zu weit weg, um zu wissen, wie es hier aussieht“. Kühlke könnte ihnen einiges erzählen: Von seinen SchülerInnen, die oft ohne Frühstück zum Unterricht kommen, so daß die LehrerInnen ihnen aus eigener Tasche eine kostenlose Mahlzeit bezahlen. Oder davon, daß jedeR sechste seiner SchülerInnnen an Lese- und Rechtschreibschwäche leidet, jedes neunte Kind sich in therapeutischer Behandlung befindet, Tendenz steigend. Und auch Saga-Sozialarbeiterin Camilla Hübsch-Törper sieht für Heimfeld nur eine Chance, wenn der Stadtteil zum sozialen Brennpunkt erklärt wird: „Nur dann können zielgerichtete Maßnahmen gebündelt werden – sonst aber fühlt sich niemand verantwortlich“.
Lösungsansätze gibt es genug: Die Stadtteilkonferenz Heimfeld-Nord hat ein ausgefeiltes Konzept entwickelt, das dem Quartier eine Perspektive geben könnte. Ganz oben steht die Forderung nach einem Stadtteilbüro als Beratungs- und Treffpunkt. Doch für das Personal geben die Behörden kein Geld. Als weitere Sofortmaßnahmen plädiert der Arbeitskreis für die Einrichtung einer Werkstadt für Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger in der Buxtehuder Straße (Räume vorhanden), eine Druck- und Fotowerkstatt sowie zusätzliches Personal für die Grundschule Grumbrechtstraße zur Betreuung besonders verhaltensauffälliger Kinder. Daneben werden ein Jugendclub und ein Nachbarschaftstreff gebraucht, die Mütterberatung und die sozialen Dienste des Bezirks müßten ausgebaut, die Betreuung Behinderter intensiviert werden. Rund 6 Millionen Mark würde die Anschubfinanzierung dieses Maßnahmenpakets kosten – Geld ,das nirgendwo zu holen ist.
Heinz Stanislawski, der seit Monaten von Behörde zu Behörde rennt, um zumindest ein paar Mark für den Stadtteil locker zu machen, kann seine Resignation kaum noch verbergen: „Wir wollen 60 Millionen Mark in die Modernisierung unseres Heimfelder Wohnungsbestandes investieren, doch das hat nur Zweck wenn sich die Stadt endlich sozial engagiert.“
Seit Juni haben die Renovierungsarbeiten in den ersten 167 Wohnungen begonnen. Dusch-Bäder werden eingerichtet, Balkone angesetzt, Dachgeschosse ausgebaut, Kleinst-Wohnungen zusammengelegt. In den Erdgeschossen sollen 3- bis 4-Zimmer-Wohnungen entstehen, die einen direkten Zugang zu den wenigen Grünflächen und Spielplätzen besitzen. Die angestrebte Mischung aus Familien-Wohnungen und Single-Haushalten hat ihren Preis. Durch die Zusammenlegung der Mini-Zellen werden von den 167 Wohnungen nur noch 109 übrig bleiben.
Doch auch Helmut Faßauer von der Steb weiß, daß „sich soziale Probleme nicht nur baulich verkleistern“ lassen. Guter Rat ist da teuer. Bislang scheinbar zu teuer.
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