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Schöne Seelen mit Behinderungen

Robert Wilson inszeniert im Berliner Hebbeltheater Susan Sontags „Alice im Bett“  ■ Von Niklaus Hablützel

Schöne Seelen finden wohl immer zueinander. Aber nicht immer wird daraus ein Theater. Susan Sontag zum Beispiel hat sich hineingefühlt in das schwesterliche Schicksal der gleichfalls hochbegabten Alice James, der jüngeren Schwester der berühmten Brüder William und Henry James. Beide hinterließen Werke, der eine als Psychologe, der andere als Dichter, Alice hingegen nur Tagebücher und Briefe. Sie litt an tausend Krankheiten, unheilbaren und auch den klugen Brüdern unerklärlichen. Ärzte diagnostizierten Nervenleiden, schließlich Brustkrebs, dem sie 1892 erlag.

Ein Poesiealbum für gebrochene Frauen hat Susan Sontag aus dieser Tragödie herausgelesen, ein „Stück in acht Szenen“, wie sie es nennt. In Bonn ist es vor zwei Jahren zum erstenmal in deutscher Sprache aufgeführt worden. Bereitwillig gab die Autorin damals der Presse Auskunft über ihr Anliegen, und nach der Premiere zeigte sich, wie nötig das gewesen war. Denn auf der Bühne quälte sich das Ensemble mit einem Text herum, der zwar fortwährend aus Alice James' Tagebüchern zitiert, seltsamerweise aber so, daß die Person, die darin zu entdecken wäre, in zunehmend exemplarische Fernen rückt. Übrig bleiben am Ende ein paar Schulbuchweisheiten über das Patriarchat und ein Schicksal im allgemeinen, das sie unnötigerweise illustriert. Schon wieder schien Alice James das Opfer sehr viel guten Willens geworden zu sein.

So konnte die Sache wohl nicht stehen bleiben, Bonn ist schließlich nicht die deutsche Hauptstadt, Susan Sontag auch nicht irgend jemand, von Alice James, der zweifellos wichtigen und entdeckenswürdigen ganz zu schweigen. Robert Wilson – auch eine schöne Seele, wie man inzwischen weiß – hat sich erbarmt und das Stück noch einmal inszeniert, in Berlin diesmal und unter Voraussetzungen, die kaum besser sein könnten: Zwei gut subventionierte, aber doch nicht staatliche Bühnen teilten sich die Produktion: Das Hebbeltheater, das seit Wilsons „Doctor Faustus“ die technischen Voraussetzungen für Wilsons Lichtregie besitzt und die Schaubühne am Lehniner Platz, die mit Libgart Schwartz eine Schauspielerin zur Verfügung stellte, die vermutlich imstande wäre, noch aus dem Obduktionsbericht einer Leiche eine Theaterrolle zu machen.

So wurde aus Susan Sontags „Alice im Bett“ doch noch ein wenig Theater, wenn auch immer noch eines mit allseitigen Behinderungen. Wilson vor allem möchte seine Bilder sprechen lassen – aber was sollen sie erzählen? Achtzehn Tuschzeichnungen sind an einem einzigen Tag, dem 20. August, entstanden, schmücken das Programmheft und dokumentieren doch nur einen etwas dürftigen Running Gag: Vier parallele Balken mit kurzem, abgwinkeltem Ende sind das Bett, an das die Patientin gefesselt bleibt. Sie verschieben die Perspektive, wechseln das Format, und stehen auch mal als Riesenrost auf der Bühne, wenn Alice sich ach so winzig klein fühlt.

Ein Gefängnis gewiß, aber was denn leidet und phantasiert dieser Geist, der darin eingeschlossen ist? Sich selbst da hinein geflüchtet hat oder getrieben wurde schon vom Vater und seinen vielen, viel zu schweren Büchern in der Bibliothek? Wilson läßt ihn wie in einem Slapstick-Traum auf einer schiefen, perspektivisch verrenkten Riesenleiter balancieren, und bald schon verwandelt er sich in die Mutter, die unerschütterlich aus einem zeitgenössischen Ölbild herauszuschreiten scheint. Überaus kunstfertig sind solche historischen Bildzitate gelungen, hilflos wirken sie dennoch, weil sich darin zeigt, wie wenig Wilson sonst an Assoziationen eingefallen ist. Diese Bilderbuchmutter ist die starke, männliche Figur neben dem philosophischen Vater, der seiner fragenden Tochter sogar den Selbstmord moralisch erlaubt hat – so überliefert der Biograph und James-Herausgeber Leon Edel die Urszene dieser Familie.

Libgart Schwartz zieht stumme Grimassen, gerät in Spasmen, die sie pathetisch überzeichnet. Schon mit dem nächsten Textbrocken setzt sie sich schnippisch darüber hinweg, ganz so, als wolle sie all das Unglück überlisten, das ihr da unentwegt angedichtet wird. Nur hat sich Susan Sontag gerade für die Komik dieser Figur weniger interessiert als für das Lehrbeispiel, das sie darin gefunden hat. Glücklicherweise hält sich Libgart Schwartz an ihren eigenen Text, denn gar nichts ist auf dem Theater aus diesem Leben zu lernen; Dämoninnen wie Wagners Kundry und die Elfe Myrtha tauchen darin auf, ungeladen, beherrschen es aber nicht, sind eher spielerische als fiebrige Fantasien – und hier vor allem dankbar genutzte Gelegenheiten für die ganz andere, technische Phantasmagorie des Wilsonschen Lichttheaters.

Die Palette ist unerschöpflich, diesmal jedoch scheint der Meister seine Scheinwerfer ehehr beiläufig bedient zu haben, als ob sie ihm plötzlich nicht mehr gar so wichtig wären. Unwahrscheinlich blau zwar leuchtet die Kundry, und Alices Salon gerät schon mal in ein Orange, das die Welt möglicherweise noch nicht sah. Vermißt hätte sie es dann aber auch nicht. Wilson hat offenbar gelernt, daß das Markenzeichen nicht immerzu mitten auf dem Produkt zu kleben braucht, seine Technik soll nun selbstverständlich wirken, er selbst möchte als Regisseur von Personen, nicht nur von Scherenschnitten im Gegenlicht anerkannt werden.

Aber noch ist nicht recht erkennbar, ob eine Libgart Schwartz oder auch Uwe Kokisch und Swetlana Schönfeld als eleganter Bruder Harry und lebenstüchtige Freundin Margret auf diesen neuen Wilson gewartet haben. Sie betreiben ihr eigenes Spiel zur Rettung von Susan Sontags Papiervorlage, zeichen feinsinnige Charaktere, die etwas überraschend außerdem in einem Stück von Robert Wilson auftreten. Wie dort immer noch üblich, müßen sie mal mit erhobenen, mal mit abgewinkelten Armen stehenbleiben. Wenn das Standbild gelungen ist, werden sie entlassen und nur noch eingerahmt von farbigen Horizonten und den schiefen Perspektiven der Requisiten: Vielleicht ist das ein Weg aus der Sackgasse, in die Wilsons Theater schon länger zu geraten drohte. Wenn er ihn betreten würde, führte das zurück zu eben jenem Literaturtheater, gegen das es einst angetreten war. Mit Susan Sontag allerdings ist das Ziel in keiner Richtung zu erreichen: es fehlt schlicht die Literatur.

Susan Sontag: „Alice im Bett“, Regie und Bühne: Robert Wilson, unter anderen mit Libgart Schwartz, Werner Rehm, Uwe Kokisch. Hebbeltheater Berlin, noch 17./18. September

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