: ETA wagt neue Kraftprobe mit Madrid
■ Seit 74 Tagen hält die baskische Organisation den Ingenieur Julio Zamora gefangen / Im Baskenland formiert sich die bislang stärkste Bürgerbewegung gegen die ETA / Polizei tappt im dunkeln
Berlin (taz) – „Julio askatu“ – Freiheit für Julio – forderten gestern mittag wieder die 337 Mitarbeiter der Elektronikfirma Ikusi in San Sebastián. Seit Juli demonstrieren sie jeden Donnerstag mit ihren blauen Spruchbändern für ihren Kollegen Julio Iglesias Zamora, der vor heute genau 74 Tagen auf dem Weg zur Arbeit von der ETA entführt wurde. Die hartnäckige Solidaritätsarbeit der Ikusi-Arbeiter hat inzwischen zu der breitesten Bürgerbewegung gegen die ETA geführt, die es je im spanischen Baskenland gegeben hat. Die in 150.000facher Auflage verteilten blauen Spruchbänder sind zum Symbol geworden, das an Zeitungskiosken, an Plakatwänden und diskret am Anzugrevers prangt.
Ihren bisherigen Höhepunkt erreichte die Antipathiewelle gegen die 1959 gegründete „Euskadi Ta Askatasuna“ (Baskenland und Freiheit) am vergangenen Samstag in San Sebastián. Die „Bürgerinitiative für die Freiheit von Julio Iglesias Zamora“, die von pazifistischen Gruppen, Künstlern, Intellektuellen und beinahe allen baskischen Parteien unterstützt wird, hatte zu einer Demonstration für die Freilassung des Ingenieurs aufgerufen und nach Polizeiangaben 80.000 Menschen auf die Straße gebracht. Die ETA-nahe baskische Tageszeitung Egin zählte immerhin 45.000 TeilnehmerInnen.
Während die Bürgerbewegung der ETA Sorgen bereiten dürfte, hat die Organisation von der spanischen Polizei offenbar wenig zu befürchten. Die ermittelt seit 74 Tagen ebenso intensiv wie erfolglos. Aus den entlegensten Ecken des Baskenlandes zwar kamen Hinweise auf das Versteck des entführten Ingenieurs. Die Fahnder gingen allen Tips nach, vermuten jedoch, daß darunter zahlreiche bewußte Irreführungen waren.
„Julio paga“ – Julio, du mußt bezahlen – haben ETA-Anhänger ihrerseits auf grüne Bänder geschrieben und in San Sebastián an die Hauswände geklebt. Möglicherweise haben das seine Angehörigen bereits getan. Spanische Tageszeitungen wollen wissen, daß vor zwei Wochen 200 Millionen Peseten (ca. 2,5 Millionen DM) Lösegeld an die ETA übergeben wurden.
Seit einigen Tagen mehren sich die Anzeichen für eine bevorstehende Freilassung des Ingenieurs. Die baskische Polizei ist darauf vorbereitet, daß die ETA ihre Geisel möglicherweise an diesem Wochenende freilassen wird.
Am Wochenende will der legale Arm der ETA in San Sebastián Stärke demonstrieren. Die im spanischen Parlament vertretene „Herri Batasuna“ (HB) hat zu einer Demonstration nach San Sebastián gerufen, zu der einige zehntausend Teilnehmer erwartet werden. HB will den „spanischen Staat“ auffordern, die Waffenstillstandsverhandlungen mit der ETA wiederaufzunehmen. Die letzten bekanntgewordenen Gespräche zwischen sozialistischer Regierung und Vertretern der bewaffneten Organisation waren Ende der 80er Jahre in Algier gescheitert. Regierungsvertreter halten die Demonstration für ein Manöver der ETA, um das verlorene Vertrauen der baskischen Bevölkerung zurückzuerobern.
In den Sommermonaten hat die ETA einen neuerlichen Beweis ihrer militärischen Stärke geliefert. An zahlreichen Ferienorten legte sie Bomben. Im Juni kostete ein ETA-Attentat in Madrid sieben Menschen das Leben.
Dabei war die ETA gerade wieder einmal totgesagt worden. Ursprünglich hatte sie ihre große Offensive für das vergangene Jahr angekündigt. Sie wollte die Olympischen Spiele und die Expo in die Luft bomben, hatten ihre Kader gedroht. Statt dessen gelangen französischer und spanischer Polizei einige empfindliche Schläge gegen die Spitze der Organisation, und es gab 1992 weder in Barcelona noch in Sevilla nennenswerte Attentate.
Auch in diesem Jahr verbuchte zumindest die französische Polizei einen Erfolg gegen die ETA, als sie zahlreiche Computerdisketten mit Detailinformationen über Mitglieder, Treffpunkte und Pläne der ETA fand. Allerdings enthüllte der Fund in Paris auch, daß die ETA keineswegs so geschwächt ist, wie die spanische Polizei vermutet hatte.
Mit der Entführung des baskischen Ingenieurs hat die ETA auf eine ihrer ganz alten Methoden zurückgegriffen, die sie seit drei Jahren nicht mehr angewandt hatte. Neben der Erpressung „revolutionärer Abgaben“ finanzierte sie sich jahrelang durch derartige Geiselnahmen. Jetzt zeigt die ETA einerseits, daß sie in Finanznöten steckt, andererseits beweist sie aber auch, daß sie über genügend Logistik verfügt, um die Polizei monatelang in Atem zu halten. Dorothea Hahn
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