■ Boris Jelzins Schritt ist ein Befreiungsschlag
: Angst um die Demokratie

Formal darf man durchaus geteilter Meinung sein. Rußlands Präsident Jelzin verordnet über Nacht die Auflösung der gesamten Legislative, des Obersten Sowjet und des höchsten Gesetzgebers, des Volksdeputiertenkongresses. Doch damit nicht genug. Auch die juristische Kontrollinstanz, das Verfassungsgericht unter seinem Vorsitzenden Waleri Sorkin, wurde erst einmal in einen nicht näher terminierten Zwangsurlaub geschickt. So was muß schockieren.

Dabei hatte doch alles so vielversprechend, wenn auch – zugegeben – chaotisch angefangen: das Bekenntnis zu Pluralismus, Meinungsfreiheit und das sichtliche Bemühen um einen Weg in die Rechtsstaatlichkeit. Schon immer hegte man im Westen und in der reaktionären Opposition zu Jelzin erhebliche Bedenken gegenüber diesem Mann. Neigte er nicht zu diktatorischen Maßnahmen, hatte er seinen damaligen Kontrahenten Gorbatschow nicht allzu schäbig ausgehebelt? Und kommt er nicht aus demselben Stall wie seine altkommunistischen Herausforderer heute? An all diesen Zweifeln ist ein Quentchen Wahrheit, mehr allerdings nicht. Mit einer autoritären oder gar diktatorischen Maßnahme die „Demokratie zu retten“ mag als Paradox erscheinen, ist es aber nicht. Jelzin war und bleibt der einzige Garant eines demokratischen Rußland, wo die gültige Verfassung nicht gleich Demokratie gesetzt werden darf.

Die Verfassung, um die es geht, stammt aus den Zeiten der Breschnewschen Stagnation. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hat sie Hunderte von Korrekturen erfahren. Sie ist ein Flickwerk, das sich hauptsächlich durch Widersprüche auszeichnet. Der Gesetzgeber, der die Annahme einer neuen Konstitution blockiert, wurde noch in der kommunistischen Ära gewählt. Die Bedingungen waren freier, aber bei weitem noch nicht demokratisch, geschweige denn repräsentativ. Funktionsträger der KPdSU übervölkerten das Parlament. Zudem sieht die alte Verfassung ihre eventuale Auswechslung gar nicht vor. Mit Ausnahme der Konsumgüter hat man damals alles für die Ewigkeit produziert.

Schnell merkte die kommunistische und chauvinistische Opposition im Parlament, daß sich das Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit des neuen Rußland für ihre rückwärtsgewandten und großteils egoistischen Interessen instrumentalisieren ließe. Ihr Geschrei sollte ungehört verhallen. Hier wollen sich Böcke zu Gärtnern machen. Wenn sie glauben, ihre Position decke sich mit der Mehrheit der Bevölkerung, warum stellen sie sich nicht den von Jelzin seit langem geforderten Neuwahlen? Sie wissen, die Wähler würden sie in die Wüste jagen.

Jelzin dagegen kann auf zwei demokratisch legitimierte Wahlen zurückblicken – als Präsident 91 und im Frühjahr dieses Jahres, als er sich dem Volk in einem Vertrauensreferendum stellte. Er erhielt nicht nur die Zustimmung, auch sein Wirtschaftskurs wurde abgesegnet. Dem Volksdeputiertenkongreß sprachen die Wähler hingegen mehrheitlich das Mißtrauen aus. Diese Institution ließ es unberührt – wie üblich –, denn den Abgeordneten fehlt der Kontakt zum Volk. Sie verachten es gar, dessen Wohl sie auf den Lippen führen.

Jelzins demokratische Wahl und Rückversicherung sind der schmale Grat, auf dem er jetzt wandert, um seine Entscheidung zu rechtfertigen. Es blieb ihm kaum eine andere Wahl. Versuche, Kompromisse mit der Legislative zu finden, hat er mehrfach unternommen. Reform und Demokratisierung dulden keinen Aufschub. Die Mehrheit der Menschen in Rußland erwartet ein entschiedenes Durchgreifen. Sie ist der ewigen Querelen müde.

Noch verfügt Jelzin über genügend Vertrauensvorschuß, um einen so riskanten Schritt zu wagen. Man wird ihn daher nicht alleine lassen. Besser einen diskutierbaren „Verfassungsbruch“ unternehmen, als mit der alten Konstitution vor die Hunde gehen. Wie gesagt, Verfassung deckt sich noch nicht mit Demokratie in Moskau. Jelzin muß nun zu den angekündigten Neuwahlen stehen und jegliches Blutvergießen vermeiden. Dann dürften letzte Zweifel beseitigt sein. Jelzin hat zu einem Befreiungsschlag ausgeholt – nicht nur für Rußland. Auch wir müssen ihm dankbar sein. Klaus-Helge Donath, Moskau