Bleierne 20er Jahre

■ Das Musical „Boyfriend“ im Musiktheater Reeperbahn ist ärgerlicherweise schneller vergessen als erzählt

Eigentlich ist es lobenswert, wenn ein Regisseur von einer seiner Arbeiten behauptet, die Geschichte sei „ganz nett“. Wie im Falle von Boris Krebs und seines Musicals Boyfriend – Die goldenen zwanziger Jahre. Ehrlichkeit ist schließlich nicht zu gering zu achten. Blöde nur, wenn sich selbst die aufgrund dieser Einschätzung heruntergeschraubten Ansprüche als noch zu hoch erweisen und das vermeintlich Tugendhafte nur ein Ablenkungsmanöver war. „Ganz nett“ wurde es bei der Premiere von Boyfriend im Musiktheater Reeperbahn am Freitag abend leider nicht – ganz und gar nicht.

Die Handlung ist schneller vergessen als erzählt. Ein halbes Dutzend junger Damen weilt im Nizza der 20er Jahre („an der Riviera tanzt man legerer“) in einem Mädchen-Pensionat. Anstand und Takt sollen erworben werden. Der Höhepunkt des Jahres ist ein Tanzball, doch wie es der Autor Sandy Wilson so wollte, fehlt Polly der entsprechende Tanzpartner. Die Tochter des Stahlbarons Browne ist am Anfang traurig und am Ende glücklich, denn sie hat doch noch einen abbekommen: Tony. Der gibt sich als Botenjunge aus, was für den weiteren Verlauf noch eine ganz bestimmte Bedeutung haben wird, die aber nicht der Rede wert ist – wie das ganze Stück.

Die Mitglieder des Musical Projects e.V. mühen sich redlich, auch ist ihnen guter Wille und Engagement nicht abzusprechen. Nur reicht das aus, um sich auf eine Bühne stellen zu dürfen, und dies bei nicht ganz wenig Eintritt (immerhin 35 Mark)? Na gut, es sind halt keine Profis und Krebs übernahm erst sechs Wochen vor der Premiere die Regiearbeit. Auch ist bekannt, daß die Reeperbahn nicht der Broadway ist, aber etwas mehr als besseres Schülertheater hätte es schon sein können – und müssen, schließlich will das Ensemble ernst genommen werden. So gesehen gehört die Meßlatte höher als bei einer Laienspielgruppe. Mit dem Anlauf haute es dabei nicht ganz hin, der Absprung mißriet – so kam es nicht überraschend, daß einen (fast) nichts überraschte.

Einzelne Punkte herauszugreifen ist nicht nötig, Boyfriend ist von der ersten bis zur letzten seiner 120 Minuten eine träge Angelegenheit. So erhebt sich die Frage: Warum wird dieses Stück in diesem viel zu großen Rahmen aufgeführt? Bestimmt nicht deshalb, weil das Ensemble singen, tanzen und schauspielern kann – über diese für das Musical typischerweise verlangten Fähigkeiten verfügt nämlich niemand. Nur die Kostüme (Anja Myrow und Anja Steinfatt) und die Bühnendekoration (Katharina Einhoff) sind als gelungen zu bezeichnen, ansonsten bonjour tristesse perfectement.

Von den goldenen 20er Jahren ist beileibe nie etwas zu spüren. Über der ganzen Aufführung liegt vielmehr die Last der ausgehenden 90er. Wie sang doch schon Mari Wilson anno 1982: „Beware boyfriend“. Eben.

Clemens Gerlach