: Kurzer "Verfall der Sitten"
■ Ausstellung über weibliche Biographien seit der Weimarer Republik. Kleine Freiheiten zwischen dem Ende des wilhelminischen Muffs und der Nazizeit
Junge Frauen mit Bubikopf, kurzen Röcken, die Zigaretten rauchen, Auto fahren, ledig und unabhängig sind. In den zwanziger und dreißiger Jahren sah so die „neue Frau“ aus. Die Frauen genossen die Freiheit, die der Untergang des Kaiserreiches ihnen gebracht hatte. Doch mit dem Beginn der Nazizeit war die gesellschaftliche Öffnung vorbei, Frauen wurden wieder in die alten Rollen gepreßt. In der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zeigt seit gestern die Ausstellung „Neue Frauen zwischen den Zeiten“, wie sich die Frauen ihre Räume erkämpften und sie wieder verloren.
Die Ausstellung verfolgt die Lebensläufe einzelner Frauen. So wurde Gertrud Loppach 1909 in Berlin geboren und nach dem Willen ihres Vaters Stenotypistin. Bereits mit 16 Jahren begann sie zu arbeiten, kam selbst für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Mutter auf. Als ihr damaliger Chef die 21jährige sexuell belästigte, verpaßte sie ihm eine Ohrfeige und kündigte.
Die Ärztin und überzeugte Kommunistin Martha Ruben- Wolf stammte aus einem intellektuellen jüdischen Elternhaus. Nach dem Abitur zog sie mit 19 Jahren nach Berlin und studierte ab 1908 Medizin als eine von insgesamt nur 312 Studentinnen in diesem Fach. 1926 eröffnete sie ihre Praxis in Niederschönhausen. Martha Ruben-Wolf engagierte sich für die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen. Mit ihrer Aufklärungsbroschüre „Abtreibung oder Verhütung?“ von 1928 wollte sie den „sexuellen Analphabetismus“ besonders in der ärmeren Bevölkerung bekämpfen.
Die Tänzerin und Pädagogin Jutta Klamt hatte 1919 ihren ersten öffentlichen Auftritt im Blüther- Saal, 1920 gründete sie ihre Tanzschule in Charlottenburg, mit der sie in den dreißiger Jahren nach Grunewald umzog. Den Tanzunterricht verstand Jutta Klamt als Fortsetzung ihrer mütterlichen Aufgabe, Menschen zu erziehen.
Mit der Wirtschaftskrise wurden die gesellschaftlichen Freiräume für Frauen wieder eingeschränkt. Eine Kampagne gegen „Doppelverdiener“, die sich nur gegen Frauen richtete, versuchte, den berufstätigen Frauen die Schuld an der wachsenden Arbeitslosigkeit zu geben. Bereits gegen Ende der Weimarer Republik flüchteten viele Frauen wegen der zunehmenden Kritik am „Verfall der Sitten“ zurück in ihre traditionellen Rollen.
Jutta Klamt machte unter Hitler jedoch erst richtig Karriere. Sie paßte mit ihren Vorstellungen von einer Gemeinschaft der Tanzenden bestens in die nationalsozialistische Ideologie der „Volksgemeinschaft“. Ihre Tanzschule wurde zu einem der führenden tanzpädagogischen Institute in Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg emigrierte sie in die Schweiz, wo sie 1970 starb.
Martha Ruben-Wolf verlor als „nichtarische“ Ärztin 1933 ihre Kassenzulassung. Gemeinsam mit ihrem Mann emigrierte sie im selben Jahr nach Moskau. 1939 nahm sich Martha Ruben-Wolf das Leben, nachdem ihr Mann wegen angeblicher Spionage verhaftet und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt worden war.
Gertrud Loppach arbeitete auch unter dem NS-Regime weiter in verschiedenen Stellen als Stenotypistin oder Sekretärin. Seit 1945 ist sie Mitglied der SPD, für die sie seit 1948 Bezirksverordnete in Schöneberg ist. Sie ist heute 86 Jahre alt und lebt in Schöneberg. Elke Gundel
Öffnungszeiten der Ausstellung bis zum 3. 12. 1995: Mo. bis Fr. 9–18 Uhr, Sa./So. 9–13 Uhr, Gedenkstätte Deutscher Widerstand,
SaalA., Stauffenbergstraße 13–14.
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