: Hochgradige Gefühlsverwirrung
■ Trotz Nervenstärke und Abstiegsangst: FC St. Pauli verliert 0:1 in Dortmund Von Christoph Ruf
Die Pflicht des Sportreporters ist es, möglichst anschaulich zu kolportieren, was sich in den von ihm beobachteten 90 Spielminuten zugetragen hat. So dürften dann heute in den Gazetten mehr oder minder wohlgeformte Sätze zu lesen sein, die Vokabeln wie „Arbeitssieg“ oder „mittelmäßiges Spielniveau“ enthalten.
Ganz anders die Perspektive eines Fußballfans. Ab 17.15 Uhr befanden sich im Dunstkreis des Dortmunder Westfalenstadions Hunderte von AnhängerInnen der unterlegenen Mannschaft im Stadium hochgradiger Gefühlsverwirrung. Eben noch trotzig die Faust gereckt und ein frohes Liedchen auf den Lippen, entgleisten plötzlich die Gesichtszüge, und den strapazierten Stimmbändern entfuhren nicht zitierfähige Flüche.
Zwar mußte auch der parteiischsten BeobachterIn bewußt sein, daß eine Mannschaft, die sich während des gesamten Spiels gerade mal zwei vermeintliche Torchancen erspielte, mitnichten als Siegerin den Platz verlassen kann. Allein – hatte mensch nicht gerade ein typisches 0:0-Spiel gesehen, in dem die Gastgeber zwar zweimal Pfosten (Cesar) oder Latte trafen (Herrlich), ansonsten aber recht wenig aus der offenkundigen Feldüberlegenheit machten? War das Urteil von Übungsleiter Uli Maslo wirklich betriebsblind, als er befand, man habe „mutig und frech nach vorne gespielt und vielleicht sogar einen Punkt verdient“? Vor allem aber – hatte der Sieger nicht vierzig Millionen in neue Spieler investiert, vierzigmal mehr als Maslo für seine eigene Mannschaft ausgeben konnte?
Aus der fanspezifischen Perspektive fand sich ein Gegenüber aus neongelb-schwarz wedelndem Publikum, das lediglich beim Zorc-Treffer (62.) so etwas wie Emotionen zeigte, rechts und links auf den Tribünen das vom DFB favorisierte Sitzplatzpublikum – erfolgsverwöhnt, undankbar und dezent.
Die St. Pauli-Fans hingegen unterstützten lautstark die immerhin vorhandenen Bemühungen der eigenen Mannschaft, und politisch bewußt wiesen sie auf den Mißstand der Versitzplatzung hin. Also gehörte das „Und ihr wollt deutscher Meister sein?“ zu den am lautesten gesungenen Verlautbarungen aus der kollektiv den Sitzplatzzwang mißachtenden Nordkurve. Allein, irgendwann pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab, der Sportreporter konstatierte „nicht unverdient“ und wunderte sich ob der ekstatischen Stimmung in der Gästekurve.
Mit beträchtlicher Zeitverzögerung hielt dann auch dort die Erkenntnis der nackten Realitäten Einzug: Dortmund drei Punkte, St. Pauli derer keinen, was folgt sind zwei Heimspiele. Und die verkommen in letzter Zeit zunehmend zur Bühne für kabarettistische Einlagen – die originelle Freistoßvariante von Dinzey, Scharping und Pröpper gegen Freiburg ist unvergessen. Zeitgleich verkündet Kapitän Pröpper, St. Pauli werde nicht absteigen: „Am Ende entscheiden die besseren Nerven, und die haben wir.“ Der Sportreporter notiert: Kein Grund, nicht das Freistoßtraining zu intensivieren...
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen