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Das Supergift von Seveso

20 Jahre nach der Chemiekatastrophe streiten die Experten immer noch über Dioxin  ■ Von Karin Bundschuh

Ultragift, Gift der Gifte, Teufelszeug: Dioxin hat viele Beinamen erhalten. Alles Versuche, das Heimtückische, Bedrohliche einer Chemikalie, die man weder riecht, schmeckt noch sieht, in Worte zu fassen. Die Angst streckte ihre Krakenarme vor 20 Jahren aus, nach der Chemiekatastrophe in der oberitalienischen Stadt Seveso.

Am 10. Juli 1976, um 12.37 Uhr, explodierte im Chemiewerk Icmesa eine Ladung frisch hergestellten Trichlorphenols. Über Seveso und den benachbarten Ortschaften zieht eine weißliche Wolke auf. Ein Gemisch aus Dioxin, Trichlorphenol, Natronlauge. In den folgenden Tagen gehen 3.300 Haustiere ein. Über die Zahl der krepierten Wildtiere kann man nur spekulieren. Greenpeace spricht von Zehntausenden. Aus Furcht, daß das Dioxin über die Nahrung weiterverbreitet werden könnte, tötet man bis 1978 weitere 77.000 Tiere. Das Gift setzt sich trotzdem in den Körpern der Menschen fest. Unbesorgt aßen sie in den ersten Tagen nach der Katastrophe Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten. Nirgendwo auf der Welt haben Wissenschaftler bisher höhere Dioxinwerte im Blut gemessen als bei den Menschen von Seveso. Ende 1976 treten die ersten der 193 Chlorakne-Erkrankungen auf. Die Bilder der entstellten Kindergesichter erschüttern nicht nur die Italiener. Die Kinder von Seveso werden zum Symbol für die vergiftete Welt.

Und über allem schwebte die bange Frage, welche Folgen würde das Unglück haben. In Seveso war Tetrachloridbenzoparadioxin (TCDD) entstanden. TCDD gilt als der gefährlichste der mehr als 200 Stoffe, die unter dem Namen Dioxin zusammengefaßt werden. Damals wußte man wenig Genaues über das Gift. Bekannt war allerdings, daß schon winzige Mengen zu Fehlgeburten und Mißbildungen, zu Haut- und Leberschäden führen können.

Nach der Katastrophe stürzte sich die Wissenschaft auf die Substanzklasse der polychlorierten Dibenzodioxine und -furane. Voller Schrecken vernahmen die Menschen, daß ein millionstel Gramm TCDD ausreicht, um ein Meerschweinchen zu töten – und in Seveso waren, so schätzen inzwischen die Wissenschaftler, mehr als zwei Kilogramm Dioxin vom Himmel gefallen. Im Tierversuch rief die Chemikalie die unterschiedlichsten lebensbedrohlichen Krankheiten hervor. Bei Nagern schädigt Dioxin den Thymus und damit das Immunsystem. Es stellte sich aber vor allem heraus, daß Dioxin ein wirkungsvoller Tumorpromotor ist. Es beschleunigt und verstärkt die Tumorbildung bei vorgeschädigten Körperzellen.

Die Bewohner in der verseuchten Region werden seit der Katastrophe regelmäßig untersucht; Pier Alberto Bertazzi von der Universität Mailand wertet ihre Krankenblätter aus. Ende Juni legte Bertazzi sein Fazit der ersten 15 Jahre nach dem Unfall vor. Bisher waren nur Zahlen für die Zeit bis 1986 veröffentlicht. Die nüchternen Fakten: Unmittelbar nach dem Unglück sind in den dioxinbelasteten Zonen mehr Menschen an Herzkreislauferkrankungen gestorben als in den anderen Gebieten der Region. Bertazzi macht den Schrecken und den Streß dafür verantwortlich. Die Zunahme von seltenen Krebserkrankungen, die tödlich endeten, schreibt er dagegen unmittelbar der Dioxinverseuchung zu: Am auffälligsten stieg die Zahl von Blut- und Lymphknotenkrebs – 19 anstelle von weniger als 10 erwarteten Erkrankungen in der Region. Erhöht, wenn auch weniger deutlich, sind Krebserkrankungen der Weichteile sowie von Leber und Gallenblase. Außerdem mußte der Mailänder Wissenschaftler bei Frauen eine Häufung von Todesfällen durch Diabetes feststellen.

Daß Dioxin Krebs auslösen kann, zeigt auch die Beobachtung von Chemiearbeitern, die sich bei BASF und Boehringer mit Dioxin vergiftet haben. Das Ergebnis der BASF-Studie: Arbeiter, die nach dem Unfall im Jahr 1953 an Chlorakne erkrankt waren, trugen 20 Jahre später ein doppelt so großes Risiko, an Krebs zu sterben, als die Durchschnittsbevölkerung. Die Untersuchung der bei Boehringer Beschäftigten zeigte, daß die Krebssterblichkeit in der gesamten Gruppe erhöht war. Signifikant angestiegen waren Erkrankungen an Lungenkrebs. Zudem beobachteten die Wissenschaftler einen Dosis-Wirkung-Effekt zwischen Dioxin und Herzkreislauferkrankungen.

Doch der Streit der Experten geht weiter. Zwei deutsche Wissenschaftler haben in Sachen Dioxin gerade „Entwarnung“ gegeben. Hans Beck vom Bundesamt für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin (BgVV) erklärte Mitte Juni: In Seveso seien weder eine erhöhte Krebszahl noch eine größere Zahl von Mißbildungen nachgewiesen worden. Zuvor hatten Beck und seine Behörde zu einem Symposium anläßlich des 20. Jahrestages des Chemieunglücks in Seveso geladen. Die dort präsentierten Studien zur Gesundheit der Seventiner endeten jedoch 1986 – und Beck interpretiert sie sehr eigenwillig. Den von Bertazzi beobachteten Anstieg an Krebserkrankungen ignorierte er. Über Fehlbildungen bei Neugeborenen läßt sich nur sehr schwer etwas sagen, da direkt nach dem Unfall viele Frauen aus Angst abgetrieben haben. Beck riet übrigens Ende der achtziger Jahre trotz dioxinbelasteter Muttermilch vehement zum Stillen. Mit auf seiner Seite streitet Diether Neubert, Professor am Institut für Toxikologie und Embryopharmakologie der Freien Universität Berlin. Für ihn ist der Beweis erbracht: „Der Mensch gehört nicht zu den Arten, die besonders empfindlich für Dioxin sind.“ Professor Bertazzi will das so nicht stehen lassen: „Dioxin ist sehr toxisch. Doch glücklicherweise wirkt es auf den Menschen anscheinend nicht so verheerend wie auf verschiedene Tierarten.“ Und er fügt hinzu: „Wir wissen noch nicht alles über Dioxin.“

Immerhin: Die Verharmloser konnten sich in Deutschland nicht durchsetzen. Das inzwischen aufgelöste Bundesgesundheitsamt und das Umweltbundesamt einigten sich Anfang der neunziger Jahre auf einen relativ strengen Grenzwert. An einem Tag soll der Mensch nicht mehr als ein billionstel Gramm (0,000 000 000 001g) Dioxin pro Kilogramm Körpergewicht aufnehmen. Außerdem nahm man Müllverbrennungsanlagen und andere Dreckschleudern in die Pflicht, so daß die Dioxinbelastung in Deutschland seit geraumer Zeit sinkt.

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