Schwarzfahren oder Krach schlagen

Die Abschaffung der BVG-Sozialkarte trifft vor allem Rentner und Alleinerziehende. Aggressive Stimmung auf den Sozialämtern. Einzelfallpüfung belastet Behörden  ■ Von Dorothee Winden

„Ich fahre schwarz, es geht nicht anders“, sagt der 29jährige bosnische Familienvater, der gerade aus dem Sozialamt im Rathaus Kreuzberg kommt. Seit die BVG die Sozialkarte zum 1. Juli abgeschafft hat, sind U-Bahn-Fahrten für ihn unerschwinglich geworden. Nur wenn er mit seiner Frau und den drei Kindern unterwegs ist, kauft er Fahrscheine. Schließlich will er seiner Familie die Schmach, als Schwarzfahrer ertappt zu werden, nicht zumuten.

Wie bisher müssen Sozialhilfeempfänger 35 Mark für den öffentlichen Nahverkehr selbst bezahlen. Doch statt der Sozialkarte für 35 Mark müssen sie jetzt entweder die 93 Mark teure Umweltkarte oder Sammelkarten kaufen: Statt unbegrenzter Mobilität reicht der gleiche Betrag jetzt nur noch für zehn Einzelfahrscheine im Monat. Wer öfter fahren muß, kann beim Sozialamt einen Fahrtkostenzuschuß beantragen. Anspruch hat allerdings nur, wer auf Jobsuche ist, häufig zu einem nicht zu Fuß erreichbaren Arzt muß, gemeinnützige oder ehrenamtliche Arbeit verrichtet. Zu diesem Personenkreis gehört der gelernte Kaufmann aus Bosnien ebensowenig wie die 34jährige, alleinerziehende Mutter mit fünf kleinen Kindern.

Dabei ist sie auf die BVG angewiesen, wenn sie mit den Kindern etwas unternehmen will. Da wird schon die Fahrt zum Zoo ein teurer Spaß. „Ich muß eben woanders sparen“, sagt sie. „Beim Strom, bei den Klamotten, und Besuche bei Burger King werden auch gestrichen.“

Ein 39jähriger Arbeitsloser mit Baseballkappe und einer Büchse Bier in der Jackentasche, gehört zu den gut Informierten. Er rückte beim Sozialamt gleich mit einem Schreiben seines Spandauer Arztes an, dessen Praxis er täglich aufsuchen muß. „Ich hab' mit der Faust auf den Tisch gehauen und gesagt: ,Ich lasse mir doch nicht alles gefallen!‘“, empört sich der ehemalige Rettungswagenfahrer. Dabei erhielt er umstandslos die 58 Mark Zuschuß zur Umweltkarte ausgezahlt.

„Die Leute sind sauer“, sagt Wolfgang Krugeler, Sachbearbeiter beim Sozialamt Kreuzberg. Wer bei der von Sozialsenatorin Beate Hübner (CDU) angeordneten Einzelfallprüfung leer ausgeht, reagiert schon mal aggressiv. „Einem Kollegen wurde angedroht, daß man ihm die Russenmafia auf den Hals schickt“, berichtet Krugeler. Andere „gehen türenschmeißend raus und peitschen auf dem Flur die Wartenden auf. Die kommen dann schon aufgebracht rein und laden ihren Frust bei den Mitarbeitern ab“, sagt Krugeler.

Sauer sind auch die Kollegen im Sozialamt. Die Einzelfallprüfung ist nicht nur konfliktträchtig, sondern bedeutet für die ohnehin überlasteten Mitarbeiter noch mehr Arbeit. Von den 23.000 Sozialhilfeempfängern im Bezirk hatten bislang rund 10.000 Anspruch auf die Sozialkarte. Damit kommen auf die 98 Mitarbeiter monatlich 10.000 zusätzliche Einzelfallprüfungen zu. Dabei betreut jetzt schon jeder Mitarbeiter 180 statt der nach einem Schlüssel vorgesehenen 100 Sozialhilfeempfänger.

Eine Zahl, wie viele Anträge bislang eingegangen sind, liegt noch nicht vor. Wolfgang Krugeler nimmt täglich etwa 20 entgegen. Den Boom erwartet er nach den Ferien im August. „Dann stehen die hier Schlange bis auf die Straße.“

Es stehe „keiner hinter der Neuregelung“, beschreibt Heike Effertz aus der Abteilung Obdachlosenhilfe die Stimmung unter den Kollegen. Der genaue Nachweis, wohin jemand warum fahre, berühre die Privatsphäre und sei mit der Menschenwürde nicht vereinbar, sagt sie. Die meisten Obdachlosen seien ohnehin auf eine BVG- Karte angewiesen, um die weit verstreuten Hilfsangebote in Anspruch nehmen zu können.

„Mir tun die alten Leute am meisten leid“, sagt Sachbearbeiter Wolfgang Krugeler. Ab dem 65. Lebensjahr erhalten sie zusätzlich zum Regelsatz von 531 Mark einen Mehrbedarf von 105 Mark. Damit soll beispielsweise ausgeglichen werden, daß der Weg zum Supermarkt für alte Menschen oft zu weit ist und sie in teureren Einzelhandelsgeschäften einkaufen. Wollen die RentnerInnen mobil bleiben, geht dieser Betrag künftig für eine Umweltkarte (93 Mark) drauf. Ein Fahrgeldzuschuß steht diesem Personenkreis nach der Anweisung der Sozialsenatorin „grundsätzlich“ nicht zu, weil der Mehrbedarf schon zusätzliche Fahrkosten enthalte.

Doch auch alte Menschen, die keinen Mehrbedarf erhalten, „fallen durch den Rost“, befürchtet Kreuzbergs Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD). Sie kommen nur in Notfällen zum Sozialamt, oft wissen sie über die Neuregelung nicht Bescheid. „Es kann doch nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob jemand bekommt, was ihm zusteht“, sagt Junge-Reyer.

Sie hofft, daß die Verhandlungen zwischen der BVG, der Senatsverwaltung für Soziales und den Bezirken doch noch zu einer akzeptablen Lösung führen. Die BVG hatte die Sozialkarte abgeschafft, nachdem der Senat die Landeszuschüsse in Höhe von 56 Millionen Mark gestrichen hatte. Nun sollen die Bezirke zur Kasse gebeten werden. Allein Kreuzberg rechnet mit Mehrausgaben von 3,6 Millionen Mark. Das mindeste, so fordern die Bezirke unisono, sei die Abschaffung der aufwendigen Einzelfallprüfung.