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Der taz-Sommerroman: "Dumm gelaufen" - Teil 5

Der Türke bot für die Adresse: drei Ziegen, sieben Schafe und eine Tochter. Wie alt ist deine Tochter!? fragte der Fremde. Achtzehn!? antwortete der Türke. Achtzehn!? Der Fremde prüfte die Zähne, das Haar und die Flanken der Tochter. Höchstens vierzehn! Siebzehn! Fünfzehn! Sie muhten. Sie wieherten. Sie hielten es wie die Bauern. Sie trafen sich in der Mitte. Und Sechzehn war die Mitte! Der Handel wurde gemacht. Die Tochter bekam ein Halfter um Kopf und Hals geschlungen. Sie wieherte nicht. Sie trat nicht aus. Und folgte dem Fremden. Drei Ziegen und sieben Schafe trabten ihr nach. Die Bestattungsunternehmen lassen sich nicht mehr schmieren und überhaupt, die Todesanzeigen, der Ohlsdorfer Friedhof: Der gesamte Wohnungsmarkt ist tot, faßte Schmock die Situation vor dem Krematorium zusammen. Wir brauchen unbedingt ein neues Konzept! Ein Wohnungskonzept! Richtig! Eigentlich ist es ganz einfach. Wir müssen dem Tod nur ein Schnäppchen schlagen: Wo immer er auch über einen Mieter kommt, müssen wir schon an Ort und Stelle sein! Einen Pakt mit dem Teufel schließen!? Nein, wir werden die Mieter einfach selbst umbringen, dann können wir uns gleich die Wohnungen ansehen! So schalten wir auch die Makler aus! lachte sich Veddel ab. Und auch andere Interessenten! lachte Schmock mit. Dann schwarzfahren. Und geiern und aasen im Zentrum ihrer sozialen Bedürfnisse. Welch ein Tag! sangen Schmock und Veddel einen Song aus der Werbung, als sie das Innere der Stadt, die Lange Reihe, ihr St. Georg erreichten. St. Georg hatte noch urbanen Tiefgang. Und es hielt viel von seinen alten Fassaden. Nur Hamburg machte sich nichts aus dieser alten Bausubstanz, nichts aus den traditionellen Arbeiter- und Terrassenquartieren und den Hinterhöfen, Passagen, Buden- und Sahlhäusern. Hamburg ließ St. Georg St. Georg sein und hatte sich selbst längst zu einem steinernen Herz entkernt.

Fenster zum Tod

Der einzige Zeuge, Afram, sieht etwas, was er nicht sehen darf, und was er sehen soll, ist in diesem Kapitel nicht zu sehen! Trotzdem gibt es eine Menge zu sehen

Afram hatte die Anstalt verlassen und war nur von einem geschlossenen Raum in den nächsten gewechselt. Seine Wohnung lag umzellt von Wohnwaben in der Koppel, mitten in St. Georg. Die Mehrheit seiner Fenster starrte in das öde Viereck des Hinterhofs, auf die Rückfront der Häuser in der Langen Reihe. Das Leben spielte sich im Hinterhof. Mehr ab, als auf. Aframs Leben spielte hinter der Tür; geordnet und terminiert von Tranquilizern, Beta-Blockern und Neuroleptika, die überall zum Schlucken auslagen. Zum Glück blieben seit zwei Tagen seine Zungenkrämpfe aus. Und sein Tagebuch eines Wahnsinnigen hatte er endgültig abgebrochen. Afram kanalisierte, banalisierte sich Schritt um Schritt. Und jeder normale Schritt, in der sich in ihn einschleichenden Normalität, schien Afram eine unnormale Bewußtseinsstörung, wie eine andere, neue und seltene Form von Krankheit zu sein. Trotzdem war Afram jetzt wieder Mensch. Auch Mann. Mit Magen. Vielleicht auch bald mit einem Mädchen im Haus. Mit Libido. Im Bett. Und in der Nacht. Es dämmerte. Ein basses Nebelhorn tönte. Afram führte seinen Blick durch das Viereck der Mauern aus. Und über den Ziegeln hetzten aufgebrachte Rauchtiere. Kräne senkten ihre Köpfe über das Viertel; Gottesanbeterin der Nacht. Sonst allgemeine Kannibanalismen in allen Fenstern zum Hinterhof! Abendrot. Abendbrot. Abend tot. Genau im Blick. Gegenüber waren zwei junge Männer in die Absteige Hansa eingezogen. Sie hatten sofort Sex miteinander, übereinander und ineinander gehabt. Afram hatte sich schon oft erwischt und sich zwischen sie gedacht, so schön schienen ihm die einzelnen Versuchsanordnungen der Liebe zu sein.

(Fortsetzung folgt)

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