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Sandra braucht 'n bißchen Kleingeld

■ Über den täglichen Hürdenlauf der Spender durch die Berliner Bettelszene

Morgens um neun steht Rainer im U-Bahnabteil und ist „seit drei Jahren HIV-positiv“. Um zehn sitzt Maria auf den Betonplatten an der Bushaltestelle und „kommt aus Bosnien“. Um elf patrouilliert Henry durch die S-Bahn, ist „haftentlassen und will nunmehr ein ehrenwertes Leben führen“. Um zwölf steht Sandra mit ihrem Köter vor Aldi Spalier und braucht „'n bißchen Kleingeld für mich und meinen Hund“. Ein Tag auf den Straßen einer deutschen Großstadt kann verdammt lang sein und vor allem teuer.

Wer wird auch kein offenes Herz haben für diese elenden und vom Schicksal gebeutelten Gestalten? Eine Mark hat schließlich jeder übrig, und irgendwie liegt das doch alles an diesem Scheißwirtschaftssystem, und der eine trage des anderen Last, und selbst das arme Mütterchen in der U-Bahn zückt das Portemonnaie, und die Türken sowieso, und wer wird denn da so geizig sein – das lassen wir uns nicht nachsagen, das nicht! Ach ja. Was wir uns nicht nach-, sondern vorsagen, muß ja keiner hören: daß sie einem auf den Geist gehen, diese Schnorrer mit ihren Litaneien, daß man sie schütteln möchte, diese jungen Gestalten, die mit ihrem Leben nichts besseres anzufangen wissen, als vor Aldi zu hocken, daß man ihn sich verbittet, diesen Anblick von wäßrigem Hautauschlag unter demonstrativ hochgekrempelten Hosen, daß man keine müde Mark geben möchte, solange sie davon auch noch ihre Mischlingstölen durchfüttern, daß bei uns keiner verhungern muß, weil unser Sozialstaat soooo schlecht nun auch nicht ist, wie man selbst immer meinte, daß man das Jugendamt einschalten möchte angesichts der Roma- Frauen auf dem Bürgersteig mit ihren winzigen Bündelkindern, daß viele der jungen Wegelagerer „gefälligst arbeiten gehen“ könnten – aber der Spruch hat schon nicht funktioniert, als man ihn von den eigenen Eltern zu hören kriegte.

Also: prompte Rückbesinnung auf die hauseigene Political Correctness und zur pragmatischen Bewältigung des vom schlechten Gewissen gebeutelten Alltags eine individuelle Verhaltensstrategie: „Wie gebe ich richtig, aber nicht zuviel und nicht dem Falschen“: A. zückt grundsätzlich nur für Frauen das Portemonnaie, L. nur für Ausländer, W. gibt Almosen nur an Gottesfürchtige mit demütigem Blick, V. niemals an Hundebesitzer, K. will für seine Barmherzigkeit wenigstens Leistung sehen in Form einer Obdachlosenzeitung oder dreimal „Für Elise“ auf dem Synthesizer. Am elegantesten hilft das einfache Prinzip: morgens immer eine Mark in der Jackentasche haben. Wer dann zuerst kommt, den belohnt halt das Geben. Vera Gaserow

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