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Elsbeth denkt, wie sie lebt

■ Altmodisches Sprechtheater – und eine Entdeckung, nicht mehr, nicht weniger: Zur Uraufführung des Stücks „Kalpak“ von Vera Kissel am Maxim Gorki Theater

Es gibt sie also doch noch, die Dramaturgen, die unverlangt eingesandte Stücke lesen. Vera Kissel, Journalistin, Lyrikerin, Jahrgang 1959, hat eine Geschichte aus den Endtagen des Zweiten Weltkrieges, die sie von ihrem Großvater erfuhr, in einem gedankenklaren, unaufgeregt-nüchternen und deshalb um so spannungsvolleren Stück nacherzählt. Und dieses Stück hat sie an das Maxim Gorki Theater geschickt. Hier beschäftigt man sich in einem genau durchdachten Spielplan immer mit unserer Gegenwart. Das heißt, man schaut viel in die Vergangenheit unseres neuen Deutschlands.

„Kalpak“ ist nur vordergründig ein Stück über eine Liebe zu dritt. Kalpak, das ist ein geflohener russischer KZ-Häftling, der bei der 41jährigen Schneiderin Elsbeth und ihrer 15jährigen Tochter Martha unterkriecht. Dabei gerät er auch zwischen die Fronten eines kleinen Mutter-Tochter-Konfliktes: zwei Frauen, in männerloser Zeit auf Suche nach Identität.

Ein Stück über Frauen, dessen Titelfigur ein Mann ist. Die Frauen reden unentwegt über Männer, denn die bestimmen ihr Leben. Reden über Männer heißt auch Reden über Gewalt. Nicht nur – kurz vor Kriegsende – über die drohende Vergewaltigung durch „die Russen“, sondern über die Selbstverständlichkeit, mit der die Männer das Leben bestimmen. „Kommen die Männer zurück, ist alles, wie es war“: Da kommt kein Friede, da kommt kein Ende, selbst wo ein Kriegsende ist.

Was wir sehen, sind Frauen aus drei Generationen. Am Anfang steht Frau Münchberger, Ehefrau des NSDAP-Ortsgruppenleiters, im rosenbedruckten Abendkleid vor Elsbeth auf dem Stuhl: Sie präsentiert sich strahlend und redet dabei doch nur von ihrem Mann. Am Ende sitzt Elsbeth auf einem Stuhl vor einem Mann, der sie wegen des Mordes an Kalpak verhört. Dazwischen das Bild von umstellten, umspitzelten, beobachteten Frauenexistenzen.

In einer Kleinbürgerwelt, die ganz ohne die auf unserem Theater sonst so üblichen skurrilen Spießerklischeewesen auskommt. Ein Stück „altmodischen“ Sprechtheaters, keine Müller-Sentenz, kein Koerbl-Krampf, kein aufgeblasenes, mythologisches Geraune. Dafür eine im guten Sinne schmucklose, aber dafür präzise, punktgenaue Sprache. Für Situationen, die nicht konstruiert, sondern organisch gewachsen scheinen.

Im Mittelpunkt Elsbeth: die denkt, wie sie lebt. Selbstverständlich, mit ihren Erinnerungen und Sehnsüchten immer im Heute. Brillant, wie die Schauspielerin Ruth Reinecke diese Elsbeth die Situation mit dem fremden Mann erleben läßt. Eine Schauspielerin, die nicht auftrumpft, die Wirksamkeit nicht von außen an ihre Figur heranträgt, sondern deren Wirklichkeit von innen heraus entwickelt. Eine Figur von großer Selbstverständlichkeit entsteht da, aus der knappen Sprache, aus realistischen Gesten. Eine lebendige Figur, keine ausgestellte: Die Inszenierung von Oliver Reese lebt ganz aus der schauspielerischen Leistung von Ruth Reinecke. Wobei ihr Ursula Werner nicht nachsteht: ihre Ehefrau des Ortsgruppenleiters ist eine alltägliche, psychologisch, aber nie psychologisierend entwickelte Figur. Was wir sehen, sind schrecklich normalen Haltungen in einer ganz konzenztrierten Inszenierung.

Das historische Kolorit mit Trümmerfrauen und BDM-Zopfmädchen, mit dem Anstehen für die Milch und den Schwarzmarktaktivitäten, es wird im Raumbühnenbild von Hansjörg Hartung nur wichtig, um die Situation der Frauen als eine ummauerte darzustellen. Aus der Martha mit Gewalt herausstrebt: in eine gewalttätige Jungens-Schieberbande und in (sexuelle) Machtspiele mit dem Opfer Kalpak, die eigentlich gegen die Macht der Mutter gerichtet sind. Regine Zimmermann gibt diese Martha ein wenig zu ausschließlich trotzig und eindimensional verbockt. Thomas Schmidt muß einen Mann spielen, der mehr als Projektion denn als reale Figur geschrieben wurde. Kalpak, der zivilisierte Russe, den Schmidt zunächst sehr überzeugend aus einer Körperanspannung heraus agieren läßt. Wenn er redet, bleibt er die (nicht immer bewußt gesetzte) Leerstelle des Stücks.

Als Kalpak selbst Gewalt auszuüben versucht, indem er nicht geht, obwohl er die Frauen gefährdet, bringen ihn Tochter und Mutter um. Ganz einfach, kein tobender Abgrund, sondern das nüchterne Leben. „Das ist das Schlimme am Krieg, daß er mehr böse Menschen macht, als böse Menschen wegnimmt.“ Die falsche Hoffnung wird umgebracht. Die Autorin: eine Entdeckung. Die Inszenierung: ein Gewinn. Hartmut Krug

„Kalpak“ von Vera Kissel. Regie: Oliver Reese, wieder am 21./22.9., 20 Uhr, Studio des Maxim Gorki Theaters, Am Festungsgraben

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