: Ein Schirm als Schutz gegen das Erdbeben
In den betroffenen Regionen Italiens sind die Menschen sauer, weil die Politiker zuerst an die Fresken denken ■ Aus Nocera Umbra W. Raith
Fassungslos starren die Menschen auf den kleinen Bildschirm: Soeben hat auf dem einzigen Empfänger, der, weil batteriebetrieben, im Viertel noch einsetzbar ist, die Tagesschau des Berlusconi-Fernsehens Canale Cinque begonnen. Moderator Enrico Mentana hat Bilder durchlaufen lassen aus Fabbriano (Dom und Kirchen bei den Erdbeben schwer beschädigt) und Urbino (Schäden am Dom und am Fürstenpalast), aus Foligno (Krankenhaus zum Teil eingestürzt, Rathausturm abgebrochen), aus Pieve Torina (ganze Häuserzeilen pulverisiert) und Verchiano, wo in einzelnen der Teilgemeinden mehr als 80 Prozent der Häuser nur noch Schutthaufen sind. Dann einige Schwenks aus Nocera Umbra, wo wir inmitten herabgestürzter Mauerstücke stehen. Schließlich taucht das Portal der Kathedrale von Assisi auf, dessen Marmorbogen mehrere Versetzungen und Querrisse zeigt, dann gleitet die Kamera über die in riesen Stücken heruntergefallenen Arkadenstützen und die halbzerstörten Giotto- und Cimabue-Fresken.
Doch was die Menschen hier entsetzt, sind nicht die Bilder des Desasters, die mitunter live mitgefilmten Zusammenbrüche ganzer Häuser (schließlich haben sie das ja selbst mitgemacht) — es ist vielmehr der Kommentar Mentanas: „Elf Menschenleben sind zu zu beklagen, 115 Verletzte. Doch was noch viel mehr wiegt, ist der Verlust unersetzlicher Kunstwerke in unseren Kirchen.“ — „Das darf doch nicht wahr sein“, ächzt der Stadtpfarrer, und der Bürgermeister breitet die Hände aus: „So weit sind wir gekommen: Kunstwerke zählen mehr als Menschenleben.“
Den Eindruck bekommt man allerdings, wenn man das Fernsehen verfolgt: Assisi, Assisi, nochmals Assisi, dann einige andere Kirchen, bei denen jeweils vor allem der Campanile zusammengebrochen ist. Dann wieder Assisi. Und auch dort scheinen nur die Fresken zu beklagen zu sein.
Von den beiden Mönchen, die in ihren Räumen getötet wurden, den beiden Zivilschutzhelfern, die bei Abstützarbeiten an den Schäden der Nacht zum Freitag am folgenden Mittag von dem viel schwereren Beben – Mercalli-Stärke 9,5 – überrascht wurden und starben, ist eher am Rande die Rede, bei den nüchternen Zahlen, die die Behörden herausgeben: an die zehntausend bereits am Freitag obdachlos, am Samstag dann schon fast hunderttausend, weil ihre Häuser, auch wenn nicht eingestürzt, so doch schwer gefährdet sind. 1.200 Feuerwehrleute sind im Einsatz, 110 Carabinieri, 767 Soldaten, 60 Rotkreuzhelfer, 700 Freiwillige, 11 Hubschrauber, 770 Wohnwagen, in denen die Menschen in den ersten Nächten leben sollen.
Und: 880 Milliarden Lire hat die Regierung bereitgestellt – „damit Assisi bald wieder so aussieht wie vorher“, hat der stellvertretende Regierungschef Walter Veltroni, zugleich Kulturminister, verkündet. Auch ihm ist zu spät aufgegangen, daß man wohl zuerst von den Menschen und dann von den Fresken reden sollte; er schiebt die Richtigstellung einige Stunden danach hinterher: Natürlich kämen zuerst die notleidenden Menschen dran. Tagesschausprecher Enrico Mentana braucht dagegen Stunden, bis er sich entschuldigt: „Tut mir leid, ein Menschenleben ist natürlich mehr wert als hundert Kunstwerke.“ Auch das freilich noch ein unangemessener Spruch.
Hier in Nocera Umbra denken die Menschen noch lange nicht ans Aufräumen, obwohl kein einziges Haus unversehrt ist. Noch immer bebt die Erde — 450 Einzelbeben wurden gezählt. Das Epizentrum der Katastrophe lag bei Cesi und Collecurti östlich von Assisi, etwa 25 km von hier. Die gut 6.000 Einwohner von Nocera Umbra leben seit Freitag nacht ausnahmslos im Freien, trotz der Kälte – in mehr als 500 Metern über dem Meeresspiegel kommen die Temperaturen nachts nicht mehr weit über sieben Grad hinaus. Auch die Landwirtschaft im Umland hat Dauerschäden – nahezu alle Ställe müssen abgerissen werden, die meisten Ackergeräte sind nur noch Schrott.
Der Bauer Martini Ermando zeigt von der Ecke der Piazza auf die Abhänge: Traktoren sind Hunderte Meter hinabgekullert, so weit haben die mächtigen Erdstöße sie von ihrem Stellplatz fortgerüttelt: „Allein ich habe Schäden von sicherlich mehr als 100 Millionen Lire“ (105.000 DM). Mimma Tartina, Hausfrau, zeigt auf ein kreisrundes, gut zwei Handflächen großes Loch im Fenster ihres Wohnhauses: da sei die Katze durchgesprungen, als drinnen die Decke herunterbrach. Bis die Menschen im Freien waren, hatten sie allesamt Schürfwunden und Kratzer, der Vater ist noch im Krankhaus, Verdacht auf Schädelbruch durch ein umfallendes Regal.
Dann wieder großer Unmut: im Fernsehen erscheint Vittorio Sgarbi, ein selbsternannter Kunstkritiker und Abgeordneter, einer, der immer alles besser weiß: Er habe sich „Zugang zum Dom zu Assisi verschafft“ – die Feuerwehrleute waren so frech gewesen, die einsturzgefährdeten Stellen einfach abzuriegeln –, habe alles begutachtet und „ein Wunder festgestellt“: die Schäden seien „eher gering, die wertvollen Fresken sind nahezu alle unversehrt.“ Die Fernsehleute, die an den Wänden nur noch Fragmente vorgefunden hatten, müssen wohl geträumt haben, die gut dreißig Kubikmeter zusammengetragener Säulenstücke, Mosaikflächen und Altartrümmer von woanders her stammen. Doch Sgarbi beharrt: „Ein Wunder.“ Für die Opfer findet auch er keine Worte, wichtig ist ihm, die anderen Berichterstatter allesamt als Katastrophenschreier zu denunzieren. Der Pfarrer in Nocera Umbra seufzt: „Glückliche Menschen, die eine solche Verdrängungskraft haben.“
Auf der Straße rücken zwei Bulldozer an. Die Leute auf der Piazza sind entsetzt: „Die werden doch jetzt nicht einfach alles beiseiteschieben, bevor wir unser Hab und Gut geborgen haben?“ Ein uniformierter Beamter des Zivilschutzes springt aus einem begleitenden Geländewagen: „Wir müssen hier räumen, zumindest die Straßen und Plätze. Ihr wißt doch, die Wasserleitungen sind geborsten, wir müssen zumindest einen Bypass legen, der elektrische Strom muß in einer Überlandleitung provisorisch wieder herangeführt werden, die Telefonleitungen sind fast alle kaputt.“ Die Menschen verstehen, aber sie rühren sich nicht von der Stelle: Nein, jetzt noch nicht. „Wir müssen erst graben“, sagt ein alter Mann, „auch wenn keine Menschen drunter sind. Da drinnen“, er weist auf ein Haus, von dem nur noch zwei Mauern stehen, „liegt doch unser ganzes Hab und Gut. Wenn ihr das mit der Raupe wegschiebt, geht auch das noch kaputt, was wir in der Eile unter die Tische geworfen haben. Bitte laßt uns Zeit.“ Die Zivilschutzleute ziehen ihre Handies heraus, telefonieren. Nach einer Stunde ist noch immer keine Lösung gefunden.
Inzwischen erscheint auf dem Bildschirm ein früherer Umweltminister, Giorgio Ruffolo: „Daß dieses Gebiet seit jeher schwer von Erdbeben bedroht ist, wußten wir doch alle“, sagt er „aber wann werden wir lernen, Vorkehrungen zu treffen?“ Ja, wann? Seit Anfang September hatte es hier leicht gebebt, an die vierzig einzelne Sequenzen haben die Warten ringsum registriert. „Doch geschehen ist nichts“, sagt Ruffolo. „Habt ihr mal überlegt, was passiert wäre, wenn es nicht um halb drei Uhr nachts losgegangen wäre, sondern am Vormittag, wenn Assisi voller Menschen ist?“ Der Bürgermeister nickt. „Recht hat er. Nur: „Welche Vorkehrungen hätten wir denn treffen sollen? Seit September im Freien bleiben, Tag und Nacht? Wer hat schon das Geld, sein altes Steinhaus mit Lipari-Tuff bebenfest zu machen?“ – „Man müßte die Menschen allesamt umsiedeln“, sagt Ruffolo, und er provoziert einen Riesenaufschrei: „Umsiedeln“, sagt der Bürgermeister, „Wie in Gibellina, was?“ Das sizilianische Dorf, etwa so groß wie Nocera Umbra, war 1968 nach einem verheerenden Erdbeben verlassen und auf der anderen Seite des Bergrückens mit neuer Technik wiederaufgebaut worden, seither gab es keine Bebenschäden mehr. Und doch: „Was die denen da hingestellt haben, mag Erdbeben trotzen“, weiß der Pfarrer, „aber sicher ist es auch nicht: vor zwei Jahren ist die neuerbaute Kirche eingestürzt, ganz ohne seismische Ursache. Nein, das wollen wir wirklich nicht.“
Dennoch hat wohl auch Ex- Umweltminister Ruffolo nicht ganz und gar unrecht, wenn er fragt, wann man endlich etwas lernt: Mindestens sieben der elf Todesopfer wären vermeidbar gewesen – wenn die Behörden und auch viele von den Medien interviewte „Sachverständige“ nicht leichtsinnig schon am Freitag vormittag eine gewisse Entwarnung gegeben hätten, als das große Beben noch bevorstand; allenfalls „Nachbeben“ seien noch zu erwarten. „Uns haben sie gesagt“, berichtet der Pfarrer, „daß man jetzt, vorsichtig zwar, aber immerhin, zumindest in die massiveren Gebäude wie die Kirchen oder in Burgbauten wieder hineingehen könne. Man solle allenfalls einen Schirm mitnehmen, falls noch etwas bröselt.“
Das aber kommt in Nocera Umbra schief an: „Sicher stimmt das“, sagt Bauern Ermando, „aber warum mußten sie denn so schnell wieder hinein, wo doch sonst niemand mehr drin war? Ich denke, die wollten so schnell wie möglich die Kirchen wieder öffnen – damit der Fremdenverkehr fließt und wieder Geld in der Kasse klingelt.“
Die Bemerkung zeigt, daß nach dem Beben der Erde das Beben der sozialen Beziehungen noch nachfolgen wird, und zwar kräftig.
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