: Klassenbild mit Krankenschwestern
Szenen von starrer Schönheit tun, als ob sie eine Handlung hätten: Robert Wilsons Luxus-Tournee-Theater startete mit „Saints and Singing“ nach Gertrude Stein zur allseitigen Zufriedenheit im Hebbel Theater ■ Von Esther Slevogt
Ins Hebbel Theater strömten am Dienstag abend die deutschen Groß- und Kleinkritiker zur Premiere von Robert Wilsons neuem Stück, „Saints and Singing“. „An Operetta“ hat Wilson seine Arbeit untertitelt. Eine kleine Oper also, nicht ganz so ernst wie die große. Aber ernster als die Operette. Operetta eben. Die Musik stammte vom Wilson-erprobten Berliner Komponisten Hans Peter Kuhn, der schon für „Death and Destruction in Detroit“ und „CIVIL WarS“ die Musik komponierte. Und für das letzte Gertrude-Stein-Projekt vor fünf Jahren: „Doctor Faustus lights the light“, ebenfalls im Hebbel Theater.
Zugrunde liegt „Saints and Singing“, ein 1922 entstandener Text von Gertrude Stein (1874–1946), einer vielzitierten, aber wenig verstandenen Großmeisterin der Moderne. Von der Wilson nicht bloß künstlerisch, sondern auch, was die Selbstvermarktung angeht, stark inspiriert worden ist: Man muß nur lange und unbeirrt genug behaupten, daß man ein Genie ist, dann glaubt es auch der Rest der Welt, Sponsoren inklusive. Die Wilson- PR im Vorfeld jedes Theaterprojekts geht entsprechend üppig mit den großen Worten um.
Zumindest, was „Saints and Singing“ betrifft, sind aber viele große Worte gar nicht nötig. Es ist ein kurzweiliger, für Wilson-Verhältnisse erstaunlich kurzer (zwei Stunden ohne Pause) Abend – in englischer Sprache, denn der Sprachwitz, die Assoziationen und Alliterationen der Steinschen Sprachkomposition überleben die Übersetzung ins Deutsche selten.
„Saints and Singing“, Heilige und Gesang. 14 Szenen für 13 Schauspieler, Studenten der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und der Theaterschule Giorgio Strehler in Mailand. Eine Komposition aus Farben, Bewegungen, Musikstilen, Bildern und Tanz. Zu Beginn fast ein Rembrandt-Tableau: eine schwarze Bühne, ein schwarzer, langer Tisch und schwarzgewandete Darsteller, weißgeschminkte Gesichter, von überdimensionalen weißen Halskrausen umrandet. Sie posieren stumm und seltsam heiter, bis ein unsichtbares und offensichtlich vergiftetes Getränk sie in Zeitlupe vom Stuhl sinken läßt.
Dann kommt die Musik ins Spiel, rhythmisch, südamerikanisch, temperamentgeladen. Eine weiße Bühne und weißgekleidete Figuren, tänzerisch bewegt. Eine Szene, die in den musicalhaften Titelsong des Abends mündet: „Saints and Singing. I have mentioned them before. Saints and Singing need no door they come before...“ – ein Lied zum Mitsingen, ein Ohrwurm, der als Leitmotiv wiederkehrt. Dazwischen Szenen von starrer Schönheit, die manchmal so tun, als ob sie eine Handlung hätten. Ein Klassenbild mit Krankenschwestern in altertümlicher Tracht, ein Schlafsaal mit jungen Männern, eine Jagdszene oder ein Gespräch zwischen Sich-nicht- mehr-Liebenden: „How do you expose me?“
Es sind streng komponierte Bilder, mehr getrieben vom Willen nach Stil als vom Willen nach Inhalt. Poetisch, pathetisch und manchmal witzig. Menschen und Bühne zu Stilleben arrangiert, ein einsames Akkordeon im Zentrum einer leeren Bühne. Eine Klarinette untermalt die Szene. Menschen treten auf und wieder ab. Sie singen, tanzen und erstarren. Dialogfetzen und Melodiefragmente. Licht und Szenenwechsel. Bilder entstehen und vergehen. Die Musik von Hans Peter Kuhn funktioniert dazu wie ein akustisches Bühnenbild – von Szene zu Szene anders. Einmal sind es die südamerikanischen Rhythmen, ein anderes Mal Musicalsongs. Dazwischen Elemente von Jazz, manchmal auch ein bißchen Kurt Weill. Oder langgezogene Töne – sphärische Computermusik.
Der Abend unterhält und macht Spaß, doch er bewegt nicht wirklich. Wilson arbeitet mit den Stilelementen, die man von seinem Theater schon lange kennt. Ein Mann auf Stelzen, der grau und riesengroß mit verbundenen Augen über die Bühne tappt. Die Frau, die mit einem meterlangen weißen Schleier auf eine Leiter steigt und dort oben eine Szene spielt. Das war vielleicht genau so noch nicht da, aber irgendwie kennt man es doch. Die Magie ist kalkuliert und hat ihr Geheimnis verloren.
Die Musiker und die jungen Darsteller aus Mailand und Berlin aber machen ihre Sache gut. Das Publikum war zufrieden. Robert Wilsons Luxus-Tournee-Theater kann getrost auf Reisen gehen, nach Belfast oder Mulhouse, Antwerpen und Paris.
In Berlin: bis 12.11. Hebbel Theater, 26.–28., 30.12. Schaubühne
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