Zwischen Eier- und Schrumpfköpfen

■ Mit der Inszenierung von „Peer Gynt“ ist dem Regisseur Wolfgang Hofmann am Bremerhavener Stadttheater ein großer Wurf gelungen / Vom Bühnenbild bis zu den DarstellerInnen paßt alles (fast) perfekt zusammen

Das letzte Wort hat der Tod. Der Tod ist eine junge Frau. Ihr nackter, schöner Körper ist unter dem langen und halb geöffneten Mantel kaum verborgen. Dieser Tod mit Namen „Knopfgießer“, der diejenigen, die nichts Rechtes geworden sind (“halb dies, halb das“), in den Schmelzofen wirft, gibt Peer Gynt eine allerletzte Chance. Als der schöne Tod im Großen Haus des Stadttheaters eigenhändig den Vorhang schließt, sind vier Stunden vergangen. Vier deftige, stille, komische und ernste Stunden, die fast nie lang wurden, in denen es selten schepperte, aber umso häufiger sensationell aufblitzte.

Regisseur Wolfgang Hofmann läßt die wildwuchernde Geschichte um Peers abenteuerliche Reise um die Welt und zu sich selber mit heftigem Tempo angehen. Wenn der junge Peer auf die Bühne stürmt und Mutter Aase hinterher, wenn er ihr seine Lügengeschichte von der höllisch gefährlichen Jagd in den Bergen auftischt, wenn er sie über die Schultern wirft und auf dem Dach des Hauses absetzt, dann ist jeder Satz in Bewegung aufgelöst. Das wirkt anfangs überzogen. Aber Christel Leuner und Kay Krause spielen sich warm. Und wenn der Sohn die sterbende Mutter zum letzten Mal besucht, hat diese Inszenierung ihren anrührendsten Moment erreicht.

Peer Gynt, der seine Heimat und seine Frauen verläßt, zieht in die Welt hinaus. Er begegnet hitzigen Weibern, er stürzt ins Märchenreich der alptraumhaft häßlichen Trolle, er landet als Kaufmann in Afrika, verliert sein Schiff, wird in Kairo zum Kaiser der Irren gekürt, kentert auf der Rückfahrt nach Norwegen, überlebt auf Kosten eines anderen und begegnet als alter Mann derjenigen, die ihn für immer geliebt hat: Solveig. Ein schriller Trivialroman, ein B-Movie, aber darunter die Geschichte eines Menschen auf der Suche nach seinem inneren Kern. „Sei dir selber genug“, rät ihm der Troll-König. Und Peer hält sich daran, obwohl er doch ein aufrechter und guter Mensch werden möchte. Wolfgang Hofmann und sein Ausstatter Lars Peter spielen gekonnt mit den Mitteln der Theatertechnik. Die Drehbühne ist permanent im Einsatz. Sie zeigt ein Panorama, – zur einen Seite Hochgebirge, zur anderen sternenbedeckter Nachthimmel –, ein Gebilde mit Türen und vielfältigen Öffnungen, die die Sicht auf die verschiedenen Schauplätze frei gibt und aus denen die zahlreichen Figuren herauspurzeln. Phantastisch-verrückt die Trolle: Eierköpfige, häßliche Gestalten, großbusige Frauen, Doppelwesen, Figuren mit Schrumpfkopf, mit zwei Köpfen – ein opulenter Höhepunkt des Spektakels.

Aber der Regisseur verrät den roten Faden dieser Story nicht an das laut rasselnde Spektakel. Er behält Peer und sein zerstreutes Leben im Blick. Und das hat er vor allem Kay Krause zu verdanken, der diese Figur mit aller Kraft, mit aller Gewalttätigkeit, mit aller Verlorenheit ausstattet. Er gibt den jugendlichen Heißsporn genauso souverän wie den alten Mann, der die Schalen einer Zwiebel schält und darin keinen Kern findet. Auch dies ein Höhepunkt, und ein Ruhepunkt in Gynts ruhelosem Lauf um die Welt. Zwischen den grellen, plakativen Ensembleszenen – niemals steif, immer bewegt – läßt Hofmann seinen Protagonisten zur Ruhe kommen. Peer darf auf der Bühne liegen und nachdenken, ohne daß die Spannung verloren geht.

Nur einmal droht diese Inszenierung abzustürzen: Peers Begegnung mit der bauchtanzenden Hure Anitra wird zur flachen Klamote. Und seinen speichelleckerischen Gästen im heißen Wüstensand mangelt es an satirischem Biß. Aber die ausgezeichneten Darsteller lassen diesen Einbruch schnell vergessen: Michael Quinten Stobbe in mehreren Rollen als exzellenter Komiker, jederzeit mit einem Tick ins Irre, ein federleichter Dicker (“Die Feder“), der sich die Kehle durchschneidet, und der arme Teufel im Pfaffenrock mit einem Koffer voller Feuerzeuge, die nicht zünden wollen. Die schrillen, sehn- und sexsüchtigen Frauen spielt Isabella Wolff mit der nötigen Schärfe. Christel Leuner als Peers Mutter hat die große Wärme einer wirklichen Mutter. Bernd Stichler als wahnsinniger Prof. Dr. Begrifflichkeit sowie als König der Trolle spielt mit leiser Ironie den hintergründigen Ernst seiner Figuren präzise aus. Und Heike Eulitz ist der schöne, nackte Tod, die wörtlich genommene Anspielung auf das Weibliche, das alle Männer hinan- und hinabzieht.

Aber was geschieht mit Solveig? Die zarte Monika Pallua steht einmal vollkommen nackt im Eingang ihrer Hütte. Aber Peer darf sie garnicht ansehen. Warum nicht? Was bleibt in seiner Erinnerung von ihr zurück? Hofmann macht die ewig Wartende zur Karikatur, die in ihrer einsamen Hütte mit Hirschgeweih an der Wand am Bügelbrett steht und „Solveigs Lied“ singt. Gebeugt und altersblind ist sie nichts als eine alte Jungfer. So flach und unscheinbar geworden, kann sie diesem Kerl doch gar nicht verzeihen. Sie ist ein Abziehbild, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Das mag frauenpolitisch korrekt sein, aber es schmerzt nicht. Und um den Schmerz auf dem Weg zur Selbsterkenntnissollte es doch gehen. Oder nicht?

Trotzdem: „Peer Gynt“ in Bremeraven: Ein großer Wurf, lebendiges, vibrierendes und feinnerviges Theater, eine Inszenierung, über die geredet und diskutiert werden kann. Ein Regisseur und ein Ensemble sind über sich hinausgewach-sen. Kompliment!

Hans Happel

Weitere Vorstellungen: 25. u. 29.10.; 6., 12., 17., 25., 28.11. im Stadttheater Bremerhaven, Großes Haus