: Die Einsamkeit des Pendlers
Jeden Tag fahren 250.000 Menschen zur Arbeit zwischen Berlin und dem Umland hin und her. Im Viertelstunden-Rhythmus lockt der Imbiß-Automat die Zugreisenden ■ Von Philipp Gessler
Dr. Jürgen Fietschen (33) und Dr. Michael Peter (36) unterhalten sich. „Daß wir noch miteinander reden, ist erstaunlich, aber es geht“, meint Fietschen. Dabei sitzen sich die beiden Kunsthistoriker Tag für Tag in aller Herrgottsfrühe müde gegenüber und fahren fast anderthalb Stunden von Berlin nach Magdeburg. Und abends zurück. Sie gehören zu den über 250.000 Arbeitspendlern, die täglich nach Berlin herein- oder herausfahren, um Geld zu verdienen.
Zufrieden sind sie damit nicht, aber als Kunsthistoriker müsse man eben dorthin, wo ein Job zu kriegen sei, sagt Peter. Allzuschnell kenne man die Strecke, vorbei an Feldern, Wäldern und einen Golfplatz. „Das verliert seinen Reiz“, sagt Fietschen.
Roswitha Linke hat kein Mitleid mit den Pendlern: Die würden doch in Berlin „100 Prozent“ verdienen, moniert sie, während man im Osten immer noch den Osttarif erhalte. Die Kundenbetreuerin in Brandenburg/Havel fertigt jetzt um 7.35 Uhr auf Gleis 1 den Regionalexpress R1 nach Fürstenwalde im Osten Berlins ab, einen typischen Pendlerzug in die Hauptstadt: knallrote Doppelstockwagen, leicht postmodern angehaucht, voll klimatisiert, mit Imbiß-Automat (Cappucino: zwei Mark), Laptop-Anschluß, Fahrradabteil und 160 Kilometer Spitzengeschwindigkeit – der Stolz der Bahn im Regionalverkehr. Der Bahnsteig ist voll, trotz Urlaubszeit. Das sei schon morgens um kurz nach fünf so, wenn der erste Pendlerzug in die Metropole saust, sagt Roswitha Linke. Die freundliche, etwas füllige Dame hat schon 38 Dienstjahre im Kundendienst hinter sich: Montag morgens, erzählt die 52jährige, sei die Stimmung unter den Pendlern oft schlecht: „Da traut man sich gar nicht, guten Morgen zu sagen – aber ich mache es trotzdem.“
Im unteren Abteil eines Waggons liest ein 54jähriger Verfahrenstechniker aus Magdeburg die Bild-Zeitung. Er braucht zwei Stunden zur Arbeit in Berlin. Deshalb habe er sich hier hingesetzt, berichtet er aus langer Pendlererfahrung, hier seien die Sitze besser. Er pendelt seit fast einem Jahr und kennt schon viele Gesichter im Zug. Aber über mehr als ein Nicken und gelegentliches gemeinsames Stöhnen, daß „nun wieder die Tortur beginnt“, gehe der Kontakt zu den Mitreisenden kaum hinaus. Seine familiäre Situation erlaube es nicht, nach Berlin zu ziehen, erklärt er – „nervig“ findet er neben der langen Fahrt besonders den Imbiß-Automaten, der sich im Viertelstunden-Rythmus über die Lautsprecher meldet. „Ich verwöhne sie gern mit meinen Snacks ... Ich hoffe, wir sehen uns“, lockt eine etwas piepsige Frauenstimme die müden Pendler.
Ausgeschlafen wirkt dagegen die Dame mit den rot lackierten Fingernägeln und dem hellgrauen Kostüm: Anne Goworr (35) steht freiwillig früher auf als nötig, oft schon gegen fünf Uhr, obwohl sie eigentlich eine Stunde länger schlafen könnte. Von Brandenburg fährt die Sekretärin seit vier Jahren jeden Tag zum Zoo, eine knappe Dreiviertelstunde. Sie liest in einem roten Buch: „Worte der Liebe“. Das Pendeln, sagt sie, mache ihr nichts aus. Sie habe meist zwei der blauen Sitze für sich. Nicht wegen des Pendelns komme sie oft erst gegen 21 Uhr nach Hause, erklärt sie, sondern wegen der langen Arbeitstage.
Mittlerweile ist es kurz vor neun, bald kommt Fürstenwalde, die Waggons sind leer geworden. Der „Kundenberater im Nahverkehr“, Daniel Horn (27), von manchen immer noch „Schaffner“ genannt, ist schon seit fast sechseinhalb Stunden auf den Beinen. Die Kette einer Taschenuhr hängt aus seiner Westentasche – die Uhr geht nach, der Zug ist pünktlich. Auch von den „vielen Stammfahrern“, so erzählt er, lasse er sich die Fahrkarte zeigen: „Da müssen sie durch.“ Er selbst würde lieber nicht mit dem Zug pendeln, da man zuviel Zeit verliere. „Mit dem Auto ist man doch flexibler.“ Und dann lächelt er so freundlich, daß sich sogar die mürrischen Pendlermienen aufhellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen