Wenn der Speckgürtel lockt

■ Berlin holt eine Entwicklung nach, die in anderen Ballungsgebieten Jahrzehnte gedauert hat. Die Abwanderung in die Randgebiete der Metropole läßt die Pendlerströme rapide ansteigen

Karl-Heinz Friedrich ist kein schlechter Mensch. Aber ein bißchen Schadenfreude kann er sich dann doch nicht verkneifen, wenn seine schicken neuen Pendlerzüge morgens an geschlossenen Schranken vorbei Richtung Berlin zischen, während am Bahnübergang die Autos im Stau stecken. „Da müßte man plakatieren: Das wäre Ihr Zug gewesen“, meint der Leiter der DB-Regio Berlin, verantwortlich für den Regionalverkehr in die Hauptstadt. Die Fahrtzeit der Züge sei für Pendler doch „gegenüber dem Auto unschlagbar“, betont er freudestrahlend.

Vielleicht liegt seine Begeisterung an der großen Aufgabe, die auf ihn und die Hauptstadt zukommt: Nicht daß Berlin die meisten Arbeitspendler hätte – Hamburg etwa hat fast fünfzig Prozent mehr, obwohl in der Hansestadt nur halb so viele Einwohner leben wie in Berlin –, aber in keiner anderen Metropole Deutschlands steigt die Zahl der Pendler so rapide an. Es herrsche eine „besondere Dynamik“, wie es in der Berliner Landesanstalt für Arbeit heißt.

So stieg die Anzahl der Pendler, die täglich in die Stadt fahren, ob aus Magdeburg in Sachsen-Anhalt oder aus Frankfurt (Oder) in Brandenburg, von etwa 136.000 im Jahr 1995 auf knapp 160.000 im vergangenen Jahr. Das bedeutete eine Steigerung um 17 Prozent. Von 1997 bis 1998 gab es einen Anstieg um 9 Prozent, während beispielsweise in Hamburg die Pendlerzahl seit langem stagniert. Allein der Pendlerstrom aus Brandenburg nach Berlin wuchs innerhalb von vier Jahren um knapp ein Drittel – und das noch vor dem Regierungsumzug und obwohl in dieser Zahl keine Selbständigen und Beamten erfaßt sind.

Wie kommt es zu einem so starken Zuwachs an Pendlern? Der Arbeitsplatzmangel, die Globalisierung und der Wandel der Berufswelt hin zu immer mehr Dienstleistungsjobs erfordert größere räumliche und zeitliche Flexibilität, wie das Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) in Erkner bei Berlin feststellt: Es sei ein „gesellschaftlicher Trend“, daß die Zahl der Menschen zunehme, die nicht dort leben, wo sie arbeiten, daß die Pendeldistanzen größer würden und man immer mehr Zeit aufwenden müsse, um den Arbeitsplatz zu erreichen – dabei braucht man unter Umständen schon sehr lange, um innerhalb Berlins von einem Punkt zum anderen zu kommen.

In der Hauptstadt wird dieser Prozeß dadurch verschärft, daß seit der Wende eine Entwicklung fast explosionsartig nachgeholt wird, die im Westen Jahrzehnte dauern durfte: die Suburbanisierung, das Hinausströmen von Menschen und Unternehmen an den Rand der Metropolen. Seit 1990 zogen nach Schätzungen 200.000 Großstädter nach Brandenburg, erklärt der IRS-Verkehrsexperte Markus Hesse – während 80.000 vom Umland in die Hauptstadt zogen. Beides erzeugt Pendlerverkehr.

Und es schafft Probleme. Denn nach Angaben des ADAC Berlin-Brandenburg jockeln täglich rund 150.000 Personen aus dem Speckgürtel um die Metropole mit dem Auto in die Hauptstadt. Weniger als ein Fünftel der Pendler nehmen öffentliche Verkehrsmittel, heißt es beim Verkehrsverbund Berlin-Brandenburg. Dort erwartet man einen Anstieg der Pendlerströme bis 2003 um weitere 17 Prozent.

Die Folge: Die Staus, das ist so gut wie sicher, werden zunehmen. Um ihnen zu entgehen, fahren viele Auto-Pendler zu „absurden Zeiten, etwa um 4.30 Uhr, in die Stadt“, so der Berliner Verkehrsexperte Christian Gaebler (SPD). Und die brandenburgische Landesregierung vergrößert die Blechlawine in die Stadt sogar noch, indem sie vierspurige Trassen nach Berlin baut: „Das schafft Probleme.“

Selbst die Autofetischisten vom ADAC schlagen deshalb vor, das Regionalexpress-System der Bahn auszubauen und Parkhäuser am Stadtrand zu bauen, von wo Pendler mit Bussen in die Innenstadt gebracht werden könnten. Neue und häufigere Busverbindungen in das Umland sollen die Pendler davon abbringen, mit dem Auto in die Stadt zu fahren. Aber das ist ein zweischneidiges Schwert, erklärt Gaebler.

So werde es ja auch reizvoller, ins Umland zu ziehen – und von dort wieder zu pendeln. Auch die „Parkraumbewirtschaftung“ ist so eine Sache: Da muß jeder für einen Autostellplatz zahlen, wenn er kein Anwohner ist. Kostenloser Parkplatz ade – extrem erfolgversprechend bei den Wählern erscheint so etwas nicht.

Vielleicht führt kein Weg daran vorbei, das Autopendeln in die Stadt so unangenehm wie möglich zu machen. Sonst droht bald täglich der Verkehrskollaps. „Würde man Hamburger Verhältnisse auf Berlin übertragen“, so warnt das IRS, „müßten angesichts der Größe der Metropole rund dreieinhalbmal so viele Beschäftigte einpendeln und die Hälfte mehr Einwohner auspendeln.“

Das wären dann rund 700.000 Pendler pro Tag. Hoffentlich kommen die am Ende nicht auch noch mit dem Auto – schon um Regio-Chef Friedrich nicht noch mehr Grund zur Schadenfreude zu geben. Philipp Gessler

Wenige Pendler nehmen öffentliche Verkehrsmittel. Der Verkehrsverbund erwartet einen Anstieg der Pendlerströme bis 2003 um 17 Prozent.