Im toten Winkel des Nirwana

■ Bei jedem Satz das Unaussprechliche im Sinn: Der russische Kult-Autor Viktor Pelewin liest im Literaturhaus aus seinem neuen Roman „Buddhas kleiner Finger“

Der sowjetische Kosmos war voll mit Tschapajew-und-Petka-Witzen, weiß der 1963 geborene Viktor Pelewin im Nachwort zu seinem Roman Buddhas kleiner Finger zu berichten. Der russische Originaltitel Tschapajew und Pustota spielt auf diese Witze an. Wassili Tschapajew ist ein historisch verbürgter Feldkommandant der Roten Armee, der als grobschlächtiger Säbelheld zur Ikone sowjetischer Witz- und Filmkultur wurde. Er handelt unter Bedingungen totaler Anarchie und schert sich nicht um das, was die Befehlsoberen sagen. Seine Reinkarnation findet dieser Typus im „Neuen Russen“, und viele Tschapajew-Witze werden jetzt kurzerhand zu Neuen-Russen-Witzen umfunktioniert.

Aber Viktor Pelewin, der mit seinen Erzählbänden Omon hinterm Mond (1992) und Das Leben der Insekten (1993) erstmals auch in Deutschland auf sich aufmerksam machte, hat weder für Tschapajew noch für den Neuen Russen viel Sympathie übrig und betreibt in seinem Roman vielmehr ein literarisches Verwirrspiel, das die Ideologien des Ostens gegen den Strich bürstet: Aus Tschapajew wird ein buddhistischer Lehrmeister, aus Petka ein frei flottierender Gedankenflug in Gestalt eines literarischen Bohemiens. Immer wieder fragt er Tschapajew: Nun sag doch endlich, existiert die Welt in mir oder ich in ihr? Aber Tschapajew isst genüsslich seine rohen Zwiebeln, trinkt Wodka und stellt seinem Schüler seinerseits sophistische Fragen.

Pelewin versetzt seinen Antihelden in eine Zapperwelt, in der Vergangenheit und Zukunft wie Programmkanäle erscheinen. Pjotr Pustota findet sich als virtuelles Wesen mal in der Irrenanstalt, mal in der eigenen Traumwelt und schließlich sogar dank Buddhas kleinem Finger, einer auf einem Panzer montierten Wunderwaffe, im toten Winkel des Nirwana wieder.

Bei jedem Satz hat Pelewin Unaussprechliches im Sinn, das er mit lakonischen Dialogen und absurdem Scharfsinn würzt. Wer sich dem Subtext nähern will, dem ergeht es wie Pustota, als er das ewige Feuer der Barmherzigkeit Buddhas erblickt. Bewegt er sich auf die Flammen zu, die aus der Erde züngeln, so rücken sie nicht näher. Wie seine literarischen Vorbilder, die Moskauer Kozeptualisten um Ilja Kabakow und Lew Rubinstein, hält es auch Pelewin nicht so genau mit der Verständlichmachung des Unaussprechlichen; er sieht in der russischen Alltagssprache und den sowjetischen Mythen eine phantasmagorische und visionäre Goldgrube, die es literarisch auszuschlachten gilt. Viktor Pelewin ist in Russland derzeit ein Autor mit Kultstatus. Stefan Pröhl

28. September, 20 Uhr, Literaturhaus, es übersetzt Andreas Tretner, es moderiert Ira Panic; Viktor Pelewin: „Buddhas kleiner Finger“. Roman. Aus dem Russischen von Andreas Tretner, Verlag Volk & Welt, Berlin 1999, 421 Seiten, 46 Mark