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„Hast du gewusst, dass der ein Mörder war?“

■  Über 8.000 Besucher kamen zum zweiten „Tag der offenen Tür“ in die ehemalige Stasizentrale. 900 davon stellten Antrag auf Akteneinsicht

Die junge Frau, Tochter eines Schriftstellers, beobachtet einen jungen Wissenschaftler – Stunde um Stunde. Sie folgt ihm auf der Straße, sie belauscht ihn, sie horcht ihn aus. Aus der Beobachtung wird Besessenheit, aus der Besessenheit ein 400-Seiten-Bericht, niedergeschrieben in vier Wochen. Aus dem Bericht wird eine Akte, aus der jungen Frau eine IM – eine inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi.

Geschichten wie diese erfahren Besucher bei einer Führung durchs ehemalige Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin. Zum zweiten Mal hat der Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen Joachim Gauck am vergangenen Wochenende seine Türen geöffnet sowie das Museum im legendären Haus I, das wütende DDR-Bürger am 15. Januar 1990 erstürmten. „Schnüffeln macht süchtig“ schrien sie damals den verdutzten Mitarbeitern des MfS entgegen und :„Es hat sich ausgespitzelt.“

„Viagra macht blau“, steht heute an den Mauern des riesigen Gebäudekomplexes in der Normannenstraße, in dem die Stasi bis zu ihrer Erstürmung residierte. Im Innenhof sucht eine Gruppe amerikanischer Touristen nach dem Supermarkt. FDP und CDU haben dort ihre Stände aufgeschlagen – der Wähler ist überall, und heute ist er bei der Stasi.

In den Räumen der Forschungs- und Gedenkstätte, die der Verein Astak (Antistalinistische Aktion) unabhängig von der Gauck-Behörde betreut, verharren die Menschen vor Schautafeln und Vitrinen. Zwei ältere Männer diskutieren über Erich Mielkes Lebenslauf: „Hast du gewusst, dass der ein Mörder war?“ Eine ältere Frau amüsiert sich über den Fahneneid, den ein Hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS leisten musste: „vier Schwüre und elf feierliche Verpflichtungserklärungen – ick gloob es nicht“.

„Wir müssen alles wissen“ war der Leitsatz Erich Mielkes für seine Spionage-Elite, der in den Räumen des Museums Gestalt annimmt. In einer Vitrine ist eine Gießkanne zu sehen mit eingebauter Kamera. Daneben eine Frauenhandtasche gespickt mit Wanzen. Darüber eine Trabi-Tür mit Infrarotkamera. Über vier Millionen Bürger hat die Stasi auf diese und andere Weise Erkundigungen eingezogen und ingesamt 122 Kilometer Schriftgut angelegt.

In siebzig Postämtern des Landes öffneten Mitarbeiter des MfS vierzig Jahre lang tagein, tagaus über Wasserdampf Briefe aus dem Westen, stahlen dem Volk 32 Millionen Mark und lasen und fotokopierte seine intimsten Gedanken.

Heute kämpfen 2.800 Mitarbeiter der Gauck-Behörde mit der schriftlichen Überlieferung von 91.000 Hauptamtlichen und schätzungsweise 173.000 Inoffiziellen Mitarbeitern des DDR-Geheimdienstapparats. Seit der Deutsche Bundestag 1991 das Stasi-Unterlagengesetz verabschiedete, hat jeder Bürger ein Recht darauf, seine Akte einzusehen.

Die vierzigjährige Renate Zimmermann hat den Tag der offenen Tür zum Anlass genommen, um einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Sie ist mit ihrem neunjährigen Sohn gekommen, der den Gang durchs Archiv „total interessant“ findet. Cornelia Bull, die Pressereferentin der Gauck-Behörde, beschreibt die meisten Besucher als genau das: interessiert.

„Vor drei Jahren“, sagt sie, „als wir die Türen zum ersten Mal öffneten, haben sich die Leute gegruselt.“ Die Stasi, gegen die sich bei der Revolution vor zehn Jahren die Wut und Verachtung des Volkes entlud, sei für die jüngere Generation im vereinten Deutschland bereits ein historisches Phänomen. Doch auch die Betroffenen, so Cornelia Bull, hätten Abstand gewonnen. Zwar sei die Anzahl der Anträge auf Akteneinsicht (etwa 15.000 im Monat) immer noch beträchtlich, doch „die Masse ist durch“.

Renate Zimmermann, die in der DDR als Biliothekarin arbeitete, vermutet, dass man über sie keine Unterlagen finden wird. „Vielleicht bin ich aber auch blauäugig, das zu glauben“, sagt sie. Falls es doch eine Akte Zimmermann gibt und darin Decknamen Inoffizieller Mitarbeiter auftauchen, weiß sie eins: „Die lasse ich nicht entschlüsseln. Zu erfahren, dass vielleicht meine beste Freundin mich bespitzelt hat – das würde ich nicht verkraften.“ Michaela Kirschner

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