: Warburg für Japaner
Eine Schau im Museum für Kunst und Gewerbe durch-sucht das westliche Bildgedächtnis ■ Von Hajo Schiff
Eine im mehrfachen Wortsinn merkwürdige Ausstellung ist zur Zeit in Hamburg zu Gast: Aus Wiener Sammlungen stammen die erst-rangige Graphiken und Altmeister-Zeichnungen. Doch die Meisterwerke von Dürer und Mantegna, Raphael und Michelangelo, Rembrandt und Rubens sind nicht in der Kunsthalle, sondern im Museum für Kunst und Gewerbe zu sehen. Sie gelangten auch nicht direkt aus Wien zu uns, sondern wurden für das National Museum of Western Art in Tokio zusammengestellt. Und sie sollen weit über das Einzelexemplar hinausweisen und Auskunft geben über die in der westlichen Kultur generell entwickelten Möglichkeiten, Bilder zu lesen.
Das in Japan sicher noch fremder wirkende Konzept der Ausstellung Rhetorik der Leidenschaft geht weder chronologisch noch nach Kunstzentren oder Künstlergruppen vor. Vielmehr gliedert sich die Schau in drei Teile und etliche ikonologische Untergruppen. Die über 80 Blätter aus der Wiener Albertina werden nach der Rhetorik ihrer Bildsprache geordnet – ein an Aby Warburg angelehntes Prinzip. Der berühmteste Hamburger Kunstwissenschaftler (1866-1929) hatte die Ikonographie begründet und Zeit seines Lebens versucht, die Kunst als ein universelles Bildgedächtnis zu verstehen, dessen spezifische Ausdrucksformen durch die Zeiten und Räume wiederkehrend wandern. So zeigt die Ausstellungshängung als erstes, wie die christliche Bildsprache seit der Renaissance mit antiken Pathosformeln angereichert wird und Heilige in der Art antikischer Halbgötter auftreten.
Dabei sind die kommentarlos gehängten Blätter oft nicht nur Meisterwerke, sondern Anlässe für komplexe kunstgeschichtliche Diskurse, auch wenn dies erst der umfangreiche Katalog mit seinen ausführlichen Erörterungen deutlich macht. Allein die ersten beiden Bilder, ein kleiner Nürnberger Holzschnitt von 1470, der nichts anderes zeigt als ein im Bildträger real aufgeschlitztes rotes Herz, und Dürers berühmtes Denkbild, die 1514 gestochene Allegorie der „Melancholia", würden für eine bis heute reichende Diskussion über den Realitätsanspruch und die Bedeutung der Bildzeichen ausreichen.
So mischt sich auch bei den weiteren Sortierungspunkten – etwa die idealische, durchmathematisierte Konstruktion der Körperproportionen oder die Tradition ausdrucksvoll ergriffener Gestik beim Thema „Nachleben der Antike" – die Freude an künstlerischer Kompentenz von Leonardo bis hin zu Goya und Käthe Kollwitz mit der Möglichkeit, sich in den weiten Denkraum übergreifender Kategorien zu verlieren.
Ziemlich konträr ist der zweite Teil der Ausstellung. Sie zeigt über 40 Blätter aus der Österreichischen Nationalbibliothek, die aus dem Nachlass des Zürcher Pastors und Physiognomen Johann Caspar Lavater (1741-1801) stammen. Hier wird die Kunst als Hilfsmittel anthropologischer Klassifizierung von Menschen nach der Wiedergabe des absoluten Ideals abgesucht. Dazu wird jede Darstellung in direkter Begegnung auf ihren psychologischen Ausdruck hin befragt und in ewig unbefriedigter Suche handschriftlich in ihren allerdings nie ganz perfekten Qualitäten kommentiert: „also feurig war, so kayserlich treffend sein Auge...", „gutgezeichnete Schädel, geformt zu heiterem Verstande".
Lavater hatte 22.000 Zeichnungen und Graphiken und 3000 originale Kunstblätter zusammengetragen und verfügte somit über ein der Warburgschen Bibliothek vergleichbares Bildarchiv. Sein Scheitern liegt in der schon damals kritisch betrachteten Systematik, deren Unmöglichkeit und geradezu rassistisch klassifizierende Abwege heute offensichtlich sind. Aber auch Aby Warburgs so vielfältig anregender Versuch einer vollständigen Erfassung des kulturellen Bildgedächtnisses ist letztlich gescheitert: Der dritte Teil der Ausstellung zeigt Teile der notwendig Fragment gebliebenen Arbeit an dessen Inventar der Erinnerung, den Bildtafeln des „Mnemosyne-Atlas". Wo es möglich war, wurden dabei die in Korrespondenz tretenden, oft nur undeutlich erkennbaren Fotodokumente durch die zitierten Original-Grafiken aus der Albertina ergänzt.
Das ganze österreichisch-japanisch-deutsche Ausstellungsprojekt ist als ein Versuch zu bewerten, für den weniger ein feuriges Auge, als ein gut sortiertes Gehirn gebraucht wird – und dringend der Katalog.
„Rhetorik der Leidenschaft – Zur Bildsprache der Kunst im Abendland“, Museum für Kunst und Gewerbe, bis 7. November, vierfarbig bebilderter, wissenschaftlicher Katalog zur Ausstellung, zur Warburgschen Methode und der Rezeption in Japan (!) im Verlag Dölling und Galitz, 260 S., in der Ausstellung 49 Mark (sonst 98)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen