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„Lernt mich gut lesen!“

Nietzsche, wie er uns gefällt: als Elvis der Philosophie und Religionsstifter des globalen Zeitalters. Bloß sollte man nicht vergessen, dass beim Denker des Übermenschen irgendwo der Hammer hängt

von RUDOLF MARESCH

Lobeshymnen und Jubelarien allerorten. Das Interesse, das Medien und Öffentlichkeit derzeit dem Leben, Werk und Denken des Philosophen Friedrich Nietzsche entgegenbringen, muss überraschen. Wer die mitunter hochgeschraubten Nachrufe und die wohlmeinende Semantik las, die die Redaktionen vergangenes Jahr zum hundertsten Todestag in Auftrag gaben, rieb sich verdutzt die Augen. So viel Anerkennung, Platz und Ehre ist bislang noch keinem Philosophen auf und in den Prints und Screens unserer Medien zuteil geworden. Von den Feiern und Tagungen, die landauf, landab veranstaltet wurden, den Websites, die im Netz freigeschaltet wurden, und dem Devotionalienhandel, der in- und außerhalb des Netzes blühte, mal ganz zu schweigen.

Das war alles schon mal anders. Als intellektuelle Jungsporne Anfang der Achtzigerjahre es wagten, den im postmodernen Waschsalon gereinigten Querdenker wieder heimzuholen, schlugen die Platzhirsche Alarm. Bekanntlich war es Jürgen Habermas, der – aus Sorge um die auf Westbindung, universale Werte und angelsächsische Denkart neu verpflichteten Bürger der BRD – die Abwehr organisierte. Für eine halbe Dekade zeigte der Abwehrkampf Erfolg. Wer Nietzsches Clipart-Stil und argumentative Sorglosigkeit teilte, wer Artistenmetaphysik intonierte und dem Sound seines Körpers frönte, sah sich auf der falschen und dunklen Seite von Aufklärung und Vernunft platziert. Für kurze Zeit gelang es der alten Diskursmacht, den Hammerphilosophen nochmals zur Persona non grata zu erklären.

Doch mit Diskursen, Ideen und der Moderne ist es bekanntlich wie mit Börsenkursen, Politbarometern oder der Mode. Schnell wird derjenige, der sich im Moment noch an der Spitze der Bewegung wähnt, streng über Auffahrten und Portale wacht und die Zugänge zu den Diskursen kontrolliert, von anderen Stilen, Moden oder Trends überholt. Umbruchsituationen beschleunigen das. Der Kollaps der bipolaren geopolitischen Welt kann als eine solche Wendemarke angesehen werden. Aus den Trümmern und Ruinen der alten Weltordnung schossen neue Mentalitäten und Lebenstriebe, die vorher negiert wurden. Sie strömen in digitale Netzwerke und nähren den Kampf der Kulturen, der um Anerkennung, Wissensvorsprünge und Einflusssphären geführt wird.

Auch das souveräne und einzigartige Individuum; die Lust, sein Gesicht zu zeigen, so, wie es wirklich ist; der Wunsch, gefährlich und riskant zu leben: all das, was Nietzsche vom neuen Menschentyp erwartete und was derzeit von Trendbüros und Massenmedien gehypt wird, haben mit dieser „Umwertung“ des Diskurses zu tun. En vogue sind pursuit of happiness, Kult-Marketing und die Feier von Ausnahme und Differenz, von Dissidenz und Alterität, wie traurig (Houellebecq), spaßig (Harald Schmidt) oder überheblich (Schlingensief) sie auch immer daherkommt. Das ist nur die andere Seite von Freihandel und offenen Märkten, von permanenter Erreichbarkeit und life long learning. Ganz falsch ist es nicht, wenn Peter Sloterdijk zur Jubeltotenfeier in Weimar den Rebell zum Trendsetter eines „Heteronarzissmus“ erklärt und im Hochgefühl Zarathustras das „fünfte Evangelium“ entdeckt.

Entfesselte Lebenstriebe

Fraglich ist aber, ob diese Entfesselung starker Lebenstriebe, die auf das Scheitern der sozialistischen Ideale folgt, schon den derzeitigen Erfolg Nietzsches beim Publikum begründen kann. Zu fragen ist auch, ob man den selbstredend Unzeitgemäßen nicht depotenziert, wenn man ihn zum Religionsstifter des globalen Zeitalters oder zum Elvis der deutschen Philosophie hochschreibt. Und in Frage steht schließlich, ob man dem Freigeist einen Gefallen tut, wenn man ihn ästhetisch abfedert und ihn zum Verkünder der Dominanz von Software und medialen Benutzeroberflächen macht. Gewiss gibt es diesen Nietzsche, den Philosophen des Pop, der Subkultur und der Inszenierung, der mit Maske, Schminke und Mimikry spielt, dabei das gute Leben predigt und zum Lustwandeln in der postmodernen Interfacekultur auffordert. Und ganz gewiss symbolisiert der Eigenname Nietzsche die Einheit einer Differenz, die den Beobachter dazu einlädt, sich bei ihm wie in einer Werkstatt zu fühlen, sich dort je nach Geschmack, Laune oder Wertgefühl das herauszuholen, was einem gefällt.

Der Betrüger, der die „schönen Trugbilder“ herbeiruft, die Welt wieder verzaubern und zur Fabel machen will, ist der eine. Der Hardcore-Nietzsche, der für die vernetzte Weltgesellschaft, für die Zukunft der Demokratie, Kultur und der Menschheit eine Reihe höchst unangenehmer Wahrheiten bereit hält, aber der andere. Weswegen dieser andere Nietzsche auch als Vordenker des räuberischen Kapitalismus gelten muss. Da gibt es einmal den „Kraftmeier“, der freien Wettbewerb, dynamische Konkurrenz und Ellbogenmentalität bedingungslos bejaht, der den Rückzug des Wohlfahrtsstaates begrüßt und der statt einer Ökonomie von Selbstbewahrung und Selbsterhalt (Luhmann) eine Maximal-Ökonomie des Verzehrs oder Verbrauchs (Bataille) lehrt. Da gibt es sodann den „Furchtlosen“, der die Werte der Demokratie, des Gemeinsinns und Gemeinwohls verabscheut, im Gleichmachen, Gleichstellen und Mitmenschlichen nicht bloß „die größte aller Lügen“, sondern auch eine Verkleinerung, Erniedrigung und Demütigung des Menschen sieht und im „Herr- und Stärker-werden-Wollen“, „im Verletzen, im Vergewaltigen, im Ausbeuten und im Vernichten“ das Wohl und die Zukunft der Kultur erblickt. Und schließlich gibt es da noch den „Gefährlichen“, den Biopolitiker und Eugeniker, der am liebsten alles Kranke, Missratene und Lebensuntaugliche ausmerzen und eine neue „Rangordnung der Individuen“ installieren will, die auf gesunden und lebensfördernden Werten gründet.

„Lernt mich gut lesen!“, diese Regieanweisung, die der Philosoph gibt, scheinen merkwürdigerweise nur Biotechnologen, Digerati und Neoliberale zu beherzigen. Während Feuilletonisten und Kulturkritiker das Horrorgemälde eines Bio-Supermarktes an die Wand malen, in dem finanziell Betuchte ihren Alterungsprozess hinausschieben oder von sich ein Double machen lassen können, formulieren jene aus der anthropologischen Feststellung, wonach dem Menschen gar keine Bestimmung zukomme, ein Programm. Sie s(t)imulieren die Gesetze der Evolution im Computer, um ihr ihre letzten Geheimnisse zu entlocken, basteln an den Bausteinen des Lebens herum oder lassen ihren Korpus einfrieren, um im Eisschrank auf die künftigen Wunderheiler zu warten.

Die Idee vom Übermenschen, Nietzsches diffusestes Geheimnis, das er der Nachwelt hinterlassen hat, kommt da gerade recht. Kulturkritiker wie Lebensplaner animiert der Begriff zum Fantasieren. Die rasanten Fortschritte in Biologie, Medizin und Medientechnik befeuern die Fantasien von Robotikern, Programmierern und Bio-Designern und beflügeln den Metabolismus von Lebenspolitik, Selektion in vivo und gentechnischer Daseinsvorsorge. Das Hohe Lied, das dabei auf den freien Unternehmer, einen anarchischen Markt und den Kampf ums Dasein gesungen wird, ist nichts weiter als die Begleitmusik zum transhumanen und postbiologischen Zeitalter. Wo Alteuropäer noch immer kryptofaschistische Gesinnungen vermuten, predigen libertäre und andere neoliberale Geister längst das Laufen- und Wachsenlassen der Evolution in und außerhalb der Maschinen. Genomics, Bioinformatik und Neo-Eugenik sind die Medien dafür. Sie bereiten die Experimentier- und Spielfelder, um Körper und Geist upzudaten und der sozialen Evolution technisch auf die Sprünge zu helfen.

Ärzte und Priester

Auf den Freigeist können sich die Techniker der Macht dabei kaum berufen, auch wenn der grollende Philosoph ständig für die Blaupausen von Genetikern, AI- und AL-Forschern verantwortlich gemacht wird. Für Ärzte, Priester und Wunderheiler hatte der Solitär nur Spott und Hohn übrig, den er wohl auch, lebte er noch, über Genscreener, Schönheitschirurgen und Biotechnologen ausgießen würde. Die sich gern als Brückenbauer des Übermenschen gerieren, sind vom Ressentiment geprägt, sie sind in Nietzsches Perspektive vom Stamm der „höheren Menschen“, die Gott getötet haben, göttliche Werte durch menschliche ersetzen und den Menschen auf den leeren Thron Gottes hieven wollen.

Der Übermensch lauert, so er denn mehr als ein bloßes Hirngespinst Nietzsches ist, wohl eher an einer anderen Stelle, dort, wo ihn niemand erwartet, nämlich in den Exklaven und Favelas der Global Cities: den schwarzen Löchern der vernetzten Weltgesellschaft. In diesen Zonen oder Inseln sammeln sich jene marginalisierten Körper und Kräfte, die der moderne Kapitalismus und die wissenschaftlich-technische Zivilisation ins Sein wirft: Ludditen, „Mühsiggangster“ und Leute, die mit dem Tempo, das Vernetzung und Digitalisierung vorgeben, nicht mehr mithalten können oder wollen; oder die keinen Bock mehr haben, als Konsumkrüppel, Lohnknechte und digitale Arbeitssklaven zu enden. Zugang zu den sozialen Systemen besitzt diese so genannte redundant population meist nicht mehr. Und Aufmerksamkeit erfährt sie in den Feedbacksystemen der Netzkommunikation nur, wenn der Katastrophenfall eintritt und die Medienmeute einfällt.

Überschuss von Kraft

Nietzsche hoffte und erwartete, dass der selektive Prozess der Evolution bald inkommensurable, nichtverwertbare und nichtkommunizierbare Kräfte, Affekte und Intensitäten ausscheidet, aus denen dann „eine Rasse mit eigener Lebenssphäre, mit einem Überschuss von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur“ emporsteigt, die „stark genug“ ist, der „Tyrannei des Tugend-Imperativs“ zu entsagen.

„Fight Club“, der Film von David Fincher, und, mehr noch, die Vorlage von Chuck Palahniuk – der wie einst Ted Kacynski, der Unabomber, und noch heute andere Technofeinde in den Wäldern Montanas lebt – geben möglicherweise einen Vorschein darauf, wie man sich den Aufstand der Affekte, die Heraufkunft dieser unproduktiven Kaste vorstellen könnte, den Nietzsche weissagt.

Der Club ist ein Treibhaus für Namenlose, für blutende Körper. Spiegel und mediale Oberflächen sind dort alle zerschlagen, nur Schmerz, Echtheitserlebnis und Wundmale zählen, die Höhen und Tiefen der Intensität. Im Gewalttätigen, im Kampf Mann gegen Mann und im Überwältigen- und Verletzen-Wollen werden laut Nietzsche die Starken und Furchtlosen geboren, jener „Kraft-Überschuss“ also, der „zur Bildung eines anderen menschlichen Typus“ führt und die „Umwertung der Werte“ erzwingt.

Diese vom entfesselten Kapitalismus geschaffene „Gegen-Selektion“ (P. Klossowski), die von den „Philosophen der Zukunft“ aktiv beschleunigt werden soll und den Übermenschen als Unmenschlichen hervorbringen soll, hat herzlich wenig mit den Vorstellungen von Pharmakologen, Medizinern und Genetikern gemein. Sie hat nichts zu tun mit den Bildern, die Neodarwinisten vom Überlebenskampf der Fittesten und Angepasstesten, vom Recht des Stärkeren und Schnelleren zeichnen, oder mit den vernetzten Seilschaften, die Soziobiologen unter den talentiertesten und erfolgreichsten Lebewesen ausmachen. Die Zukunft aber, sie gehört Nietzsche zufolge monströsen Subjektivitäten.

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