: Pragmatisch Leben retten
Die Zahl der Drogentoten steigt wieder. Die Suchtpolitik in Deutschland hat versagt, denn immer noch ist totale Abstinenz das Ziel. Unsere Nachbarn sind da weiter
Es war eine nüchterne Bilanz, die die Nachrichtenagenturen kürzlich verbreiteten: Mindestens 1.923 Menschen starben im letzten Jahr an den Folgen ihres Drogenkonsums. Nur zweimal in der Geschichte der Bundesrepublik wurden mehr Rauschgifttote registriert – 1992 waren es 2.099 Opfer, 1991 starben 2.125 Süchtige. Offensichtlich hat die deutsche Drogenpolitik versagt. Trotz aller Versuchsprogramme. Denn im Kern wird unverändert das Prinzip der Abstinenz verfolgt – und nicht das der Schadensbegrenzung wie in den Niederlanden oder in der Schweiz, die mit den Suchtstoffen pragmatisch umgehen.
Dieser deutsche Zwang zur Abstinenz hat zwar wenig Erfolg, dafür aber eine umso längere Tradition. Es ist eine Geschichte der ideologischen Wandlungen. Abstinenz war im Mittelalter zunächst ein moralisch-religiöses Prinzip. Sucht galt als gotteslästerliche Ausschweifung. Doch spätestens im 19. Jahrhundert wurde Sucht immer mehr als Krankheit gesehen und damit zu einer medizinisch-wissenschaftlichen Kategorie. Diese Verwandlung des moralischen in ein medizinisches Problem veränderte auch den Blick auf die Drogen. Galten sie früher als Genussmittel, so gelten sie jetzt als grundsätzlich gefährlich. Zwischen Cannabis und Heroin wurde nicht differenziert – unterschiedslos wird unterstellt, dass alle Drogen stets und immer zu Abhängigkeit und zu Krankheit führen. Der kontrollierte Genusskonsum und zunehmend auch die medizinisch-therapeutische Anwendung wurden für unmöglich erklärt. Aus dieser Sicht hat der Rausch keinen Ort in der Moderne, er widerspricht der Rationalität und der impliziten protestantischen Ethik unseres Wirtschafts- und Gesellschaftslebens. Allerdings galt diese kategorische Abstinenzforderung nie für alle Drogen. Souverän wurde darüber hinweggesehen, dass Alkohol – nach medizinischen Kriterien – mindestens genauso gefährlich ist wie Heroin. Er macht leicht abhängig, und seine gesundheitsschädlichen Folgen sind extrem. Dass der Alkohol dennoch höchste gesellschaftliche Akzeptanz genießt, zeigt bereits, wie voreingenommen die Drogendebatte geführt wird.
Das Konzept der Schadensminimierung nähert sich etwas nüchterner dem Drogenproblem: Wie gesagt, letztes Jahr starben 1.923 Menschen an illegalen Drogen. Das kleine, aber höchst bedeutsame Detail dabei: Diese 1.923 Menschen starben nicht an den Drogen an sich, sondern an den Bedingungen ihres Konsums. Sterile Injektionsmöglichkeiten und vor allem saubere Substanzen sind zentral wichtige Faktoren für die Lebenserwartung eines Heroinkonsumenten. Ist beides gegeben, so zeigen Untersuchungen in der Schweiz, dann sinkt die Zahl der Herointoten deutlich.
Aber abhängig sind sie doch immer noch? Richtig, aber notwendige Bedingung einer jeden Therapie ist die Lebendigkeit des Patienten. Ist er bereits tot, dann ist die hinreichende Bedingung für einen Therapieerfolg, die Bereitschaft des Abhängigen, nur noch von geringem Interesse.
Die Verteidiger der Abstinenz glauben stets, sie könnten durch ein striktes Verbot die Drogenabhängigen bessern – tatsächlich zeigen sich die Folgen ihrer Politik an ganz anderer Stelle. Es wird nur eine abstrakte Grenze verschoben, die Menschen und Stoffe zwei Weltmärkten zuteilt: dem legalen und dem illegalen Drogenmarkt. Natürlich war ein illegaler Drogenmarkt nie vorgesehen, stattdessen sollte das Verbot die Drogen zum Verschwinden bringen. Inzwischen wissen wir, dass Drogen nicht einfach „verschwinden“. Sie werden nur hin- und hergeschoben, zwischen Legalität und Illegalität. Für einen Heroinkonsumenten besteht der Unterschied nur im Preis und in der Reinheit, nicht in der Verfügbarkeit.
Selbst einige CDU-Politiker haben diese Grundtatsache inzwischen so weit eingesehen, dass sie sich für Fixerstuben und eine kontrollierte Heroinabgabe an Schwerstabhängige einsetzen. So zum Beispiel Jürgen Rüttgers in Nordrhein-Westfalen oder Volker Rühe bei seinem Wahlkampf in Schleswig-Holstein. Doch auch wenn diese kontrollierte Heroinabgabe inzwischen von allen Seiten als ein großer Fortschritt und eine bedeutsame Maßnahme der progressiven Drogenpolitik gefeiert wird: Sie ist kaum mehr als symbolische Politik. Zum einen fehlen sowieso ausreichende Therapieplätze: In Deutschland leben etwa 150.000 Heroinabhängige, die Modellversuche können aber nicht mehr als 2.000 aufnehmen. Zum anderen fällt im Vergleich mit der deutschen Geschichte oder dem aktuellen europäischen Ausland auf, dass der angebliche Fortschritt immer noch ein Rückschritt ist. Bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Deutschland größere Mengen Heroin hergestellt und medizinisch angewandt oder exportiert (1928 waren es zum Beispiel 1.300 Kilo). Noch bis 1973 war Heroin in der „Betäubungsmittelverschreibungsverordnung“ aufgeführt, konnte also verschrieben werden. In Großbritannien ist dies bis heute möglich.
Wirklicher Fortschritt in der Drogenpolitik würde in Deutschland anders aussehen als die halbherzigen Modellversuche: So müssten suchtmedizinisch fortgebildete Arzt darüber entscheiden können, ob ein Abhängiger Heroin bekommt, alternativ Methadon oder Kodein, oder ob er eben sofort eine Therapie beginnt, je nach seinem Gesundheitszustand, seinen Lebensumständen und seiner Therapiemotivation. Da zudem die meisten Drogenabhängigen Mischkonsumenten sind, wäre zu prüfen, ob der Arzt für eine therapeutische Übergangszeit auch den Beigebrauch weiterer Drogen, wie zum Beispiel von Kokain, verordnen kann. Eines jedenfalls ist klar: Die praktizierte Alternative, die Kriminalisierung der Abhängigen, führt weder schneller zur Abstinenz, noch erhöht sie die Therapiemotivation. Die Zahl der Drogentoten wird so ebenfalls nicht gesenkt.
Je länger die Debatte um die Heroinpolitik in Deutschland währt, desto deutlicher wird, dass dort keine Fortschritte zu erwarten sind. Zu ideologisch sind die Fronten. So bizarr es ist: Wahrscheinlich lässt sich nur etwas über einen Umweg bewegen – über die Cannabisfrage. Hier gibt es neben der Heroindiskussion die drängendste Auseinandersetzung in der deutschen Drogenpolitik. Und die Dynamik der Debatte dürfte zunehmen, da die Schweiz den Cannabiskonsum demnächst legalisieren wird – noch weitgehender als die Niederlande. So sieht sich die konservative deutsche Politik immer mehr von liberalen Nachbarn „umzingelt“. Fakt ist jedenfalls: Objektiv sind die medizinischen Gefahren von Cannabis keinesfalls größer als die anderer, schon legaler Genussmittel; im Vergleich zu Alkohol ist es geradezu harmlos. Und: Die Zahl der Cannabiskonsumenten in Deutschland wird auf 4 bis 7 Millionen geschätzt. Es stellt sich die Frage, ob sie besser auf dem illegalen oder auf dem legalen Markt aufgehoben sind. Eine Frage, die genauso auf die Heroinabhängigen zutrifft – und dort längst eindeutig beantwortet ist. Heroin muss kontrolliert freigegeben werden. TILMANN HOLZER
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