: Die Aluminiumtoten
2.450 Zwangsarbeiter – gezählt am 12. April 1945. Danach kein Aktenfund mehr. Ein dünn bewachsenes Geviert im Wald bei der Fabrik. Liegen sie hier?
Aus Lauta THOMAS GERLACH
Nun sind die Aluminiumtoten doch ans Licht gekommen – nach fast 56 Jahren Schlaf im Waldboden, im Sand der Niederlausitz. Hunderte osteuropäischer Zwangsarbeiter, vielleicht über tausend, erschossen vom sowjetischen NKWD, dem Vorläufer des Geheimdienstes KGB.
So könnte es enden.
So wird es enden, glaubt Klempnermeister Alfred Schulze aus Lauta bei Hoyerswerda.
Wenn doch das Gras flüstern könnte oder die Kiefern reden! Sie tun es nicht. Und Steine gibt es kaum. Nur die Backsteinpfeiler stehen noch, dazwischen modert Holz, Wasser tropft – das Tor zu den Zwangsarbeiterbaracken im Lautawerk, der größten Aluminiumhütte Europas, damals vor fast 60 Jahren. Herrmann Göring verliebte sich in das Metall. Das Aluminium wölbte die Bäuche der Bomber, spannte die Flügel, machte die Vögel leicht und schnell und siegesgewiss: Über Rotterdam und Antwerpen, über London und Paris, über Warschau und Minsk und Kiew. Die Flieger jagten von dort Männer und Frauen ins Reich zur Arbeit, und sie trieben fast 5.500 ins Lautawerk, so viel hat ein Regionalhistoriker aus Hoyerswerda in Archiven und Akten gezählt. „Lautawerk“ – Aluminiumstadt – Kriegsmaschine: Lange trugen Werk und Ort denselben Namen, knapp 200 Hektar im Lausitzer Sand. Von Kiefern umstanden, von Häusern umringt, Villen für die Ingenieure und Direktoren, Reihenhäuser für Beamte und Arbeiter. 1917 im ersten Krieg gebaut von den Vereinigten Aluminiumwerken VAW, nahmen Hitler und Göring es an sich und ließen abseits von Villen und Reihenhäusern Baracken errichten. Da hatte der zweite Krieg begonnen. Deutsche Geschichte, Kriegsgeschichte im Lausitzer Sand. Das Werksgelände selbst ist Friedhof, mit einem kilometerlangen Tuch aus Gras verhüllt, nur vom bröckelnden Wasserturm und der Ofenhalle mit dem zerbrochenen Scheiben überragt – Gerippe, die noch nicht versinken wollen. Vor elf Jahren kam das Aus. Das Lautawerk ist mit der DDR gestorben und an Ort und Stelle begraben worden.
Wenn die Steine reden könnten! „Hier über die Pflastersteine sind sie immer gelaufen. Die seh ich noch vor mir. Morgens zur Arbeit, abends zurück. Nee, gut sahen die nicht aus.“ Schulze steht vor seinen Haus, Hände in der Cordhose. Die Friedrich-Engels-Straße war eine schöne Straße. Kühn mit dem Lineal gezogen, rechts die Häuser, links das Werk, Pflaster gelegt und Bäume gepflanzt. Morgens hinauf, abends hinunter, Schlurfen auf dem Stein. Als Kind stand er schon dort. Alfred Schulze – klein, dicker Schädel, große Brille, ein stämmiger Kerl, ein kräftiger Klempner. Der hat jahrzehntelang Gewinde geschnitten, Bleche gebogen, Rohre gelegt, gelötet, geschweißt. Alfred Schulze kennen viele – wegen der Firma, weil er erfolgreicher Geräteturner war und jetzt wegen der Sache mit dem Massengrab.
Ein Massengrab? „Die Vermutung, dass sich im Wald zwischen Lauta und Lauta-Dorf ein unbekanntes Großgrab befinden könnte, wird durch Indizien gestützt.“ Nein, so redet kein Handwerksmeister, auch nicht Schulze. Doch so hat er es neulich aufgeschrieben, elf Seiten mit schwungvoller Schrift, mit Streichungen und Einschüben, rot markiert, mancher Satz ist staatstragend, niedergeschrieben für die Lokalredaktion. „Na ja, Beweise gibt es keine, aber Indizien.“ So klingt der Klempner Schulze auf der Straße. Er schaut durch die Brille und macht nicht den Eindruck, dass er sich sonst mit Argumentationsketten beschäftigt.
Wie ein Klempner geht Alfred Schulze auch hier vor: Zuerst ein Rohr und dann eine Naht, ein Winkelstück und wieder ein Rohr und näher ans Ziel, und dort was geholt und noch ein Stück – und fast alles passt. Doch es fehlt noch etwas – der Beweis. Was er hat, sind Indizien, Formstücke aus der Vergangenheit, vielleicht fehlen noch – Knochen?
„Am 12. April ’45 war der letzte Zählappell, da waren es 2.450 Zwangsarbeiter, acht Tage später marschierten die Russen ein. Wo sind die Arbeiter hin?“ Alfred Schulze hält die Niederschrift in der Hand, klopft mit dicken kurzen Fingern auf die Zettel. Der Geschützdonner war schon Tage vorher zu hören. „Unsere Ausländer haben das auch gehört!“ Da konnte man doch fliehen? „Sicher sind viele geflohen: Holländer, Italiener, Belgier, Polen. Aber nicht alle.“ Der Klempner sitzt im Frühstücksraum seiner Firma, der ist zum Hörsaal geworden. Schulze legt Indiz für Indiz auf den Tisch. „Die waren doch alle nicht kräftig, die haben mit Säuren und Laugen gearbeitet. Und die Wege waren auch nicht sicher.“ So wie viele Einheimische verlässt der achtjährige Alfred Schulze mit seiner Mutter die Stadt am 19. April ’45, am nächsten Tag kommen die Russen. Schulze hat längst die Brille abgenommen, kaut auf dem Bügel herum, streicht sich über die Stirn, selbst jetzt sieht seine Hand wie eine Faust aus. Die Rote Armee habe sich nicht aufgehalten, sei weiter nach Berlin gezogen, der NKWD hingegen sei geblieben. Russische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene schickte er meist in so genannte Filtrationslager, viele kamen danach ins Gulag. Zwangsarbeiter galten unter Stalin als Verräter, etliche wurden erschossen. Hat der NKWD das gleich hier in Lauta „erledigt“? Oder hat doch die SS im Barackenlager „aufgeräumt“, um keine Zeugen zu hinterlassen, bevor sie nach Westen floh? Oder haben die Zwangsarbeiter einfach das Weite gesucht?
Für Alfred Schulze ist der Täter klar: der NKWD. „Man muss die Zeit berücksichtigen: Wir befinden uns im April, keine Ernte, nichts war da!“ Alfred Schulze legt nach. „Und dann hat der Churchill noch Sprüche gemacht, dass man gleich weitermarschieren müsste gen Osten und so. Der Stalin wollte die Leute doch gar nicht haben!“ Eine ehemalige Zwangsarbeiterin hat sich inzwischen aus Polen gemeldet. Sie berichtet, dass die Russen auf Landsleute geschossen haben. Von Exekutionen weiß sie nichts, von Vergewaltigungen schon. Sie konnte fliehen. Alfred Schulze hält ihren Brief. Der Pausenraum als Tribunal.
Und dann ist da noch das Waldstück.
Alfred Schulze hat manches ausgebreitet, doch das stärkste Indiz liegt in Berlin im Schrank des Archivars Peter Belli. Zwei Luftbilder, derselbe Wald: das erste Foto vom 24. März ’45, das zweite von 1953. Auf dem ersten ist der Wald intakt, auf dem zweiten ist ein freies, exaktes Geviert zu erkennen, etwa 80 mal 100 Meter. Das Massengrab? „Eine Geschützstellung hat dort keinen Sinn, das Gelände liegt westlich vom Werk, die Russen kamen von Osten“, sagt Schulze. Strategien. „Holz wurde auch nicht gebraucht, nebenan war doch die Braunkohlegrube.“ Indizien. „Mein Gott! Wie geht man denn an so was ran, wenn man keine Zeitzeugen mehr hat?“ Schulze wird lebhaft. Gerüchte, ja, die gebe es: aus zweiter Hand, aus drittem Mund. Die Alten hielten sich bedeckt. Sicher, wer hätte zu DDR-Zeit das Maul aufgerissen und von russischen Erschießungen geplaudert? Und wenn das schlicht ein Holzeinschlag war? „Der Revierförster weiß davon nichts. Und man hat doch nicht so’n knappen Hektar einfach aus dem Wald herausgeschlagen!?“ Alfred Schulze hat sich die Jacke übergeworfen. Ab in den Wald!
Hier ist Alfred Schulze mit seinem Irish Setter spazieren gegangen. Irgendwann sind ihm die mickrigen Bäume aufgefallen, ringsum wachsen aber kräftige Kiefern. „Die werden die Toten mit Löschkalk bestreut haben, dass die nicht stinken.“ Danach wächst nichts mehr. Löschkalk gab’s im Werk. Alfred Schulze steht im Wald, er hat ein Hölzchen aufgehoben, zeigt auf dünne graugrüne Birkenstämme: „Die müssten doch weiter sein?“ Man muss schon genau hinsehen, um den Unterschied zu erkennen. Es gibt ihn. Alfred Schulze steht fragend auf Moos und Laub. Liegen zwei Meter unter ihm Tote? Vor acht Jahren ist Schulze zur Gemeindeverwaltung gegangen. „Die haben – wie soll ich sagen? – darüber gelächelt.“ Danach hat er Ruhe gegeben. Vielleicht hätte er graben, vielleicht alles an die große Glocke hängen sollen, als sich so viele nach der Wende mit der Stalinzeit befasst haben? Als der Archivar Peter Belli in seiner Diplomarbeit über das „Lautawerk“ in einer Fußnote fragte, wo denn die vielen Zwangsarbeiter geblieben seien, nahm Schulze Kontakt zu ihm auf.
Da steht Alfred Schulze im Wald, der Regen tropft, und traut sich nicht mehr zu graben. Und die anderen wollen nicht. „Ich bin der Meinung, dass die herkommen und buddeln sollen!“ Die – das ist die Staatsanwaltschaft Bautzen, bei der er Anzeige gegen Unbekannt erstattet hat wegen Verdacht auf Massenmord. Eine Antwort hat Schulze erst nach Monaten erhalten: Auf bloßen Verdacht hin werde man nicht aktiv. Die Staatsanwaltschaft präzisierte diese Woche: Auf eine abenteuerliche Vermutung hin, dass Russen Russen erschossen hätten, werde man jedenfalls kein teures Staatsgeld für Grabungen verschwenden. Die Sache sei an die Kripo übergeben. Bitteschön, jeder könne graben, natürlich mit Genehmigung des Eigentümers. Ein Bauer – der hält sich raus. Wer will schon nach einem Massengrab in seinem Wald suchen lassen?
Während der Klempnermeister Indizien ordnet, interessiert sich in Bonn ein Herr von der „VAW Aluminium“, heute eine Tochter der e.on, stellt dem Reporter Fragen. Ob denn was dran sei an dem Massengrab? Man wurde ja enteignet und habe mit dem Lautawerk nichts mehr zu tun, man sei der Stiftungsinitiative beigetreten und habe einen in der Größenordnung üblichen Betrag gezahlt. Wie viele Zwangsarbeiter, wird zurückgefragt. Nun, da gebe es keine genauen Zahlen. Es werde gerade an der Firmengeschichte geschrieben.
Der Archivar Peter Belli, der die beiden Luftbilder besorgt hat, geht von mindestens 20.000 Zwangsarbeitern für alle acht Werke der VAW aus. 50 Ostarbeiter haben in den letzten Monaten an die Gemeindeverwaltung Lauta geschrieben und sich wegen der Entschädigung gemeldet, 50 – von fast 5.500 Zwangsarbeitern. Zu wenig, glaubt Schulze. Im Wald zwischen diesen dünnen Birken steht der Klempner, 67 Jahre, und sammelt auch dieses Indiz.
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