Anstrengende Tage in der alten Fabrik

Jugendliche, die als nicht mehr „beschulbar“ gelten, wird über den Berufsförderlehrgang zu einem Hauptschulabschluss verholfen. Für die meisten Teilnehmer ist das Angebot die letzte Chance auf einen Job. Vormittags wird gebüffelt, nachmittags werden berufspraktische Erfahrungen gesammelt

von KAI LÜCKEMEIER

Sabrina hat ihre Freundin Melanie mitgebracht. Beide sind in dem Alter, in dem Mädchen meistens glucksen, wenn Erwachsene dumme Fragen stellen. Weil sie es an der Regelschule nicht mehr ausgehalten haben, besuchen sie den Berufsförderlehrgang für „schulmüde“ Jugendliche. Warum es ihnen in dem alten Fabrikgebäude des BFL besser gefalle als in der Hauptschule? Die beiden kichern sich an. Na ja, weil die Schule eben „total Scheiße“ sei. „Und der BFL?“, möchte ich wissen. „Der ist voll fett!“ Die beiden bekommen einen Lachanfall.

Sabrina und Melanie sind nur zwei von vielen schulmüden Jugendlichen, die im Laufe der letzten dreizehn Jahre den Berufsförderlehrgang des Jugend- und Familienbildungswerks im nordrhein-westfälischen Stadtlohn besucht haben. „Schulmüde“, das ist ein sehr vager Begriff für die Tatsache, dass irgendein Schüler den Anforderungen der Regelschule nicht gewachsen ist. Manchmal zeigt sich das dadurch, dass er die Durchführung des regulären Unterrichts verhindert oder dass er an der Haustür einen anderen als den Schulweg einschlägt. Manchmal ist es aber auch einfach so, dass die schulischen Leistungen ganz plötzlich rapide in den Keller gehen und die Lehrer wie Eltern vor einem Rätsel stehen.

So unterschiedlich sich die so genannte Schulmüdigkeit äußert, so unterschiedliche Gründe kann sie haben. Es ließen sich allenfalls ein paar Muster erkennen, mehr aber auch nicht, meint Bodo Richter, Leiter des BFL: „Bei manchen haben die schulischen Probleme unmittelbar mit der Trennung der Eltern begonnen.“ Daneben gibt es Jugendliche, die gegen die Schule rebellieren, weil sie als Institution eine gesellschaftliche Ordnung repräsentiert, die ihnen außer Frust wenig zu bieten hat. „Vereinzelt gibt es auch sehr schwierige Fälle, etwa körperliche Misshandlungen oder Verdacht auf sexuellen Missbrauch.“ Viele sind aber einfach nur in eine Clique geraten, die sich ihre Zeit lieber mit Drogen oder mit rechtsradikalen Sprüchen als mit Büffeln vertreibt.

Kurz und gut: Einen irgendwie typischen „Schulmüden“ gibt es nicht. Abgesehen von der Oberschicht sind alle sozialen Milieus vertreten. Es gibt Kinder von Lehrern ebenso wie von Langzeitarbeitslosen. „Die meisten Teilnehmer kommen von der Hauptschulen des Kreises, manche aber auch aus einer Real- oder Sonderschule“, sagt Richter. Hinter ihrem rebellischen Verhalten, dem coolen Outfit und markigen Sprüchen, verberge sich, so Richter, meistens Resignation und ein katastrophal unterentwickeltes Selbstwertgefühl.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass diese Jugendlichen sich nun regelmäßig pünktlich zu einem anstrengenden Tag in einer alten Fabrik zu versammeln. In den Vormittagsstunden büffeln sie für den Hauptschulabschluss, nachmittags sammeln sie in den Praxisgruppen Holz, Metall, Farbe und Hauswirtschaft ihre ersten berufspraktischen Erfahrungen. Angetreten unter der Vorgabe, nicht mehr „beschulbar“ zu sein, haben in den letzten Jahren jeweils etwa 85 Prozent der Schüler eines Jahrgangs den Hauptschulabschluss der Klasse 9 geschafft. Das bedeutet die Chance auf einen Ausbildungsplatz.

In der „Fabrik“ zählt ein klares Regelwerk. Die Jugendlichen sollen pünktlich zum Unterricht erscheinen und einmal pro Woche ihren Ordnungsdienst versehen. Nur bei gravierenderen Vergehen wird eine schriftliche Verwarnung ausgesprochen, schlimmstenfalls eine zeitlich befristete Suspendierung. „Noch wichtiger als das Einüben von Regeln ist es aber“, sagt Richter, „den Schülern den Glauben an die eigenen Fähigkeiten und Stärken zurückzugeben.“ Hier spielt die Arbeit in den Werkstätten eine wesentliche Rolle. Und ein Blick in die „Fabrik“ bezeugt, dass sie etwas können. Über den Sitzgruppen im Eingangsbereich hängen hübsche Bilder, in den Fluren stehen teils schick, teils surrealistisch gestaltete Stühle, auf denen die Jugendlichen ihren Verein oder ihre Lieblingsband verewigt haben. Und für die Pausen haben die Jugendlichen vor einiger Zeit in Eigeninitiative einen Kiosk organisiert.

Vor einigen Jahren hat man die übliche Aufteilung der Schüler in Lerngruppen von maximal zwölf Personen aufgegeben. Man ging dazu über, alle 25 Teilnehmer in einer einzigen Klasse zu betreuen. Seitdem hat sich der Charakter des BFL verändert: Aus einer sozialpädagogisch sonderbetreuten Schülergruppe ist eine fast ganz normale Schulklasse geworden. Schüler, die ein Dauerabo auf die Rolle des Sitzenbleibers hatten, erfahren plötzlich Erfolgserlebnisse in der Schule, die viele von ihnen über Jahre nicht mehr hatten. Darüber hinaus versucht man im begleitenden Förderunterricht, auch die lernschwachen Schüler gezielt zu unterstützen. Parallel zum laufenden Unterricht wird einer kleinen Gruppe von maximal vier Jugendlichen genau der Stoff vermittelt, den die anderen in der Klasse durchnehmen. Die Teilnehmer wechseln, um keinen der Jugendlichen aus dem Klassenverband zu isolieren.

Für alle ist der Lehrgang die letzte Chance, und das wissen sie. Wer es hier nicht schafft, wird von keiner Regelschule mehr aufgenommen. Aber man hat nicht den Eindruck, als sei dies der einzige Grund, warum sie nun regelmäßig zum Unterricht erscheinen. Im Frühjahr dieses Jahres waren sie fünf Tage lang auf Klassenfahrt in London; für einige Schüler der erste Auslandsurlaub ihres Lebens. „Es gab weder eine vorzeitige Heimreise, noch einen Verweis und nicht einmal eine ernsthafte Ermahnung“, freut sich Richter. Auch die öffentliche Akzeptanz des Berufsförderlehrgangs hat sich mittlerweile verbessert. Das Verhältnis zu den Hauptschulen des Kreises, die dem Berufsförderlehrgängen vor nicht allzu langer Zeit noch sehr skeptisch gegenüber standen, ist sogar außerordentlich gut. „Kommen kann jeder, der entschlossen ist, seine Chance zu nutzen und sich an die drei kategorischen Grundregeln hält: keine Drogen, keine rechtsradikalen Sprüche, keine Gewalt“, sagt Richter.

Und die Wartelisten werden immer länger. Inzwischen könnte der BFL mühelos ein zweite Klasse füllen. Mit dem permanent wachsenden Leistungsdruck, den die Gesellschaft in die Schulen hinein trägt, wächst auch der Bedarf nach alternativen Modellen. Aber die Plätze sind kontingentiert und das Land weigert sich seit Jahren, weitere Mittel bereit zu stellen.